von Runa Valgard

Der Blautopf und das Kloster Blaubeuren, Foto von Florian Schott, unbearbeitet. Quelle: Wikipedia

Eine moderne Sage

Kilian fasste seinen Knüppel fester. Hatte er nicht ein Knacken gehört, dort, zwischen den Bäumen? Er lauschte angestrengt, doch konnte kein weiteres Geräusch mehr vernehmen. Sicher ein Tier, vielleicht ein Siebenschläfer oder eine Maus. Er seufzte schwer. Der Mond stand hoch am Himmel auf sandte silbriges Licht auf den friedlichen daliegenden Blautopf. Wieder einmal war ihm die Aufgabe zugefallen, hier Wache zu halten.

In den letzten Tagen hatten die anderen Mönche am Morgen immer wieder merkwürdige Gebilde aus Zweigen in der Karstquelle gefunden. Hexenwerk, hatten sie geflüstert, sich hastig bekreuzigt und das Wasser gesegnet, bevor sie es in den schweren Eimern in das Kloster schleppten … Ihm als einem der jüngsten und zugleich kräftigsten Mönche war nun in dieser Nacht die Aufgabe angetragen worden, die Quelle vor der Hexe zu schützen.

Da! Er fuhrt erschrocken zusammen. Wieder ein Geräusch! Er lauschte. Es kam von der anderen Seite, jemand schien den Abhang hinunter zu klettern … So leise wie möglich schlich er barfuß den Rand der Quelle ab. Dort, das Licht des Mondes fiel auf eine menschliche Gestalt, die schon fast die Wasseroberfläche erreicht hatte … Rasch sprang er herbei, packte die Gestalt und zerrte sie vom Wasser weg und rezitierte den Psalm 31: „Ego autem in te speravi, Domine, dixi: Deus meus es tu, in manibus tuis sortes meae. Eripe me de manu inimicorum meorum et a persequentibus me; illustra faciem tuam super servum tuum, salvum me fac in misericordia tua. Domine, non confundar, quoniam invocavi te; erubescant impii et obmutescant in inferno – Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage, Du bist mein Gott. In Deiner Hand liegt mein Geschick; entreiße mich der Hand meiner Feinde und Verfolger, lass dein Angesicht leuchten über deinem Knecht, hilf mir in deiner Güte! Herr, lass mich nicht scheitern, denn ich rufe zu Dir. Scheitern sollen die Frevler, verstummen und hinabfahren ins Reich der Toten.“

„Bitte, Herr“, flüsterte eine Frauenstimme. „Bitte.“

Eine Frau. Die Hexe! Also hatten die anderen Mönche doch Recht gehabt.

„Du kommst mit zum Kloster“, krächzte er. „Ego autem in te speravi, Domine …“

„Bitte, Herr, lass ab, verschone mich“, bat die Frau. „Ich flehe dich an, ich weiß, ich tat Unrecht und Frevel, aber ich weiß mir nicht anders zu helfen. Ich will meinem Mann ein Kind schenken und kann es nicht … Grün und blau hat er mich deswegen schon geschlagen.“

„Dann solltest du die Jungfrau Maria anrufen“, erwiderte Kilian gefasst.

„Das tue ich. Ich tue alles, ich gehe jeden Sonntag in die Kirche, ich bete drei Mal am Tag, ich sage jeden Tag zehn Mal das Ave Maria, aber sie erhört meinen Wunsch nicht. Da erinnerte ich mich an das, was die Mutter meiner Mutter einst über den Blautopf erzählt hat und über die schöne Lau …“

„Hexen und Dämonen“, schnaubte der junge Mönch abfällig. „Sie werden dir nicht helfen. Der Herr allein nimmt es und der Herr gibt es.“

„Aber warum bestraft er mich so hart?“

„Vielleicht will er nicht dich bestrafen, sondern deinen Mann“, überlegte der junge Mönch und seufzte schwer. „Seine Wege sind oft unergründlich …“

„Mein Mann … Wenn er erfährt, dass ich hier war … Ich tue alles, um seinem Willen zu gehorchen, aber er schlägt mich noch tot. Bitte, ich bitte Euch … Habt Erbarmen mit einer Sünderin. Vielleicht, oh Herr, wenn wir gemeinsam beten …“

Kilian seufzte leise. Zu gut kannte er es, wenn man doch versuchte, alles richtig zu machen, und dennoch die Knute und Rute des Abtes auf ihn eindrosch, weil er ein Gebet falsch rezitiert hatte oder den Korb mit Eiern fallen gelassen hatte …

„Knie nieder und bete mit mir“, bat er die junge Frau und hob an:

Ave Maria

Gratia plena

Dominus tecum

Benedicta tui in mulieribus

et benedictus fructus ventris tui, Iesus.

Santa Maria Mater Dei,

ora pro nobis pecatoribus

nunc et in hora mortis nostrae.

Amen!

Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade,

der Herr ist mit dir.

Du bist gebenedeit unter den Frauen,

und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.

Heilige Maria, Mutter Gottes,

bitte für uns Sünder

jetzt und in der Stunde unseres Todes.

Amen.

Die junge Frau stimmte in das Gebet ein. Voll Inbrunst beteten sie gemeinsam, bis der Mond hinter den Bäumen verschwunden war.

„Du musst nun gehen“, flüsterte er ihr zu. „Bald wird es hell werden.“

„Du bist ein Mann Gottes, nicht wahr?“, fragte die junge Frau.

„So ist es.“

Da nahm sie seine Hand und führte sie an ihre Brust.

„Was machst du da!“, zischte er erschrocken und fühlte zugleich die weiche, warme Rundung unter seiner Hand …

„Früher haben Frauen, die keine Kinder haben konnten, so heißt es, sich mit den heiligen Männern vereinigt und …“

„Nein!“ Entsetzt zog er die Hand zurück. „Bitte, geh jetzt, führe mich nicht in Versuchung …“

„Gottes Wille geschieht“, flüsterte sie. „Vielleicht ist das ja Gottes Wille? Du hast gesagt, vielleicht will Gott ja meinen Mann bestrafen …“

„Weiche zurück“, zischte er entsetzt. „Satan, verschone mich …“

„Aber du willst es doch auch …“ Er spürte ihre Hand an seiner Körpermitte. Nein, das durfte nicht sein, das war verboten.

„Hast du es je getan?“

Nein, er hatte nie. Natürlich sah er den jungen Frauen und Mädchen nach, wenn sie auf dem Markt standen und ihre Ware kauften oder verkauften. Und er wusste, dass viele Mönche im Kloster sich ihrer Unkeuschheit hingaben, auch er hatte es schon oft allein getan, und er hatte sich oft gewünscht, mit einer Frau … Er hatte sich stets dafür gegeißelt und es gebeichtet … Und jetzt hob die Frau seine Kutte an und … „Nein“, keuchte er und hoffte doch zugleich, sie würde weitermachen. Und sie machte weiter. Er stöhnte auf, er wollte nicht, aber konnte nicht anders, als sie sein Glied mit ihrem Mund umfasste und an ihm saugte. Er ließ sich fallen und gab sich ihr hin, genoss ihre Zärtlichkeiten und glaubte doch zugleich, die Augen des Teufels im Dunkeln leuchten zu sehen. Eine Wolke zog vor den Mond, sicher würde gleich ein Blitz auf sie niederfahren und sie verbrennen … Auf der anderen Seite wusste er aber auch, was der Abt mit Bruder Oswald in der Kammer trieb und Bruder Koch mit der Magd des Schweinehirten und beide waren noch ganz und trugen auch keine Male auf ihrem Körper …

Die junge Frau ließ von ihm ab. „Nimm mich, heiliger Mann“, flüsterte sie und hob ihr Kleid.

Der Mond kam wieder hinter der Wolke hervor und beleuchtete zwei weiße Beine und sanfte Rundungen und da konnte er nicht an sich halten, er legte sich auf sie und nahm sie und erlebte so zum ersten Mal das Wunder der Liebe und als er in ihr kam, fühlte er sich so erlöst und glücklich wie nie in seinem Leben.

„Ich danke dir“, flüsterte sie und küsste ihn, ordnete ihr Kleid und verschwand leise zwischen den Bäumen, während er sich noch überrascht sortierte und nicht fassen konnte, welche Sünde er gerade begangen und welche himmlische Lust sie ihm bereitet hatte.

Bald zeigte sich der erste Streif des Tages am Himmel. Das Hexenmal, fiel ihm siedend heiß ein. Was, wenn sie ihn betrogen und das Hexenmal in den Blautopf gelegt hatte? Doch das Wasser lag still da und kein verräterisches Zeichen war zu sehen. Nach kurzer Zeit kamen Bruder Bestlin und Bruder Ekarius mit ihren Eimern herbeigelaufen und freuten sich, dass sie kein Zeichen einer teuflischen Macht auf dem See entdecken konnten.

Kilian hatte durch seinen Wachdienst jedoch die Frühmesse verpasst und musste den ganzen Tag knien und beten, sodass er in der Abendmesse beinahe eingeschlafen wäre und die Stockhiebe des Abtes ertragen musste.

Zeit verging. Kilian betete und arbeitete, wie es seine Pflicht war und der Blautopf blieb unbehelligt von Hexenwerk, bis etwa ein Jahr später wieder das Hexenzeichen auf der Quelle schwamm.

Wieder war es an Kilian, Wache halten. Als er ein verdächtiges Knacken hörte, rief er: „Halt, wer da?“

Leises Lachen ertönte und wenig später spürte er jene fremde und zugleich doch noch immer vertraute Gestalt an seiner Seite.

„Ich danke dir, dass du da bist“, flüsterte die Frau ihm zu. „Jene Nacht war gesegnet, ich habe meinem Mann ein Kind geboren.“

„Sei dankbar“, zischte er zurück.

„Aber mein Mann ist es nicht“, seufzte sie. „Denn es ist ein Mädchen und kein Junge. Er hat wieder angefangen, mich zu schlagen.“

„Das tut mir leid.“

„Können wir noch einmal zusammen das Ave Maria beten, heiliger Mann?“

Und es geschah, wie in jener Nacht vor einem Jahr: sie beteten das Ave Maria und gaben sich danach ihrer sündigen Lust hin.

„Wirf kein Hexenwerk mehr in das Wasser“, bat er sie. „Komm nächstes Jahr in der Nacht zum Namenstag des heiligen Johannes wieder hierher, dann können wir erneut gemeinsam beten.“

Ein Jahr verging. Die Erinnerungen an die junge Frau hielten Kilian wach. Nahezu jede Nacht träumte er von ihr und wünschte sich nichts sehnlicher, als mit ihr zusammen an der Blautopfquelle zu stehen …

Die besagte Nacht kam heran. Nachts schlich er sich heimlich aus seiner Zelle, kletterte über die Klostermauer hinweg und eilte hinüber zum Blautopf, wo er sich, wie immer, hinter der Mühle versteckte. Er wartete, aber er hörte kein Knacken und kein Rascheln. Vielleicht war sie schwanger und deswegen nicht zu ihm gekommen? Oder ihr Mann hinderte sie daran, das Haus zu verlassen? Oder hatte sie es schlichtweg vergessen?

Zeit verging. Er hatte schon Sorge, dass es bald hell werden würde, als er ein verräterisches Rascheln hörte und sie neben sich spürte.

„Heiliger Mann, bete für mich“, flüsterte sie. „Ich fürchte, ich werde die Nacht nicht überleben.“

„Warum?“, fragte er erschrocken.

„Ich habe ein Geschwür, das mir die Luft nimmt. Ich habe die halbe Nacht gebraucht, um zu dir zu kommen, weil ich dich vor meinem Tod noch einmal sehen wollte. Der einzige Mann, der je freundlich zu mir war und der Vater meiner Kinder …“

„Schweig still“, unterbrach er sie hastig. „Deine Kinder sind die Kinder deines Mannes.“

„Gott hat mir eine Tochter geschenkt und einen Sohn und doch beide wieder genommen“, schluchzte sie auf. „Sie wurden krank und starben.“

„Das tut mir leid. So leid …“ Er nahm sie in seine Arme.

„Bitte, ich habe nur einen Wunsch“, flüsterte sie. „Hilf mir in den Blautopf, ich möchte darin baden.“

„Das Wasser ist eisig!“, rief er erschrocken.

„Ich wünsche es mir. Bitte.“

Also half er ihr ins Wasser und hielt ihre Hand, während sie nackt in die Quelle tauchte. Was die Mönche wohl dächten, wenn sie es wüssten, fragte er sich flüchtig – und musste doch für sich feststellen, dass diese junge Frau ihm mehr bedeutete als das Kloster, in das seine Eltern ihn als Kind gesteckt hatten und das er seitdem nicht mehr für länger als ein paar Stunden verlassen hatte.

Schließlich zog er die junge, zitternde Frau aus dem Wasser, zog ihr das Kleid an und trug sie den Berg hinauf, bis er den Eingang jener Höhle fand, von der er viel im Dorf gehört hatte. Dort nahm er sie in seine Arme und murmelte Vater Unser und Ave Maria, während draußen die Sonne aufging.

Sie schlief an seiner Brust, ihre Atemzüge wurden immer ruhiger und gleichmäßiger und auch er schlief ein.

Als er erwachte, lag er allein in der Höhle. Von der jungen Frau war nichts zu sehen. Er suchte überall nach ihr, konnte aber keine Spur von ihr entdecken.

Die Mönche hatten sein Verschwinden sicher bemerkt und er wusste, er würde Ärger bekommen, wenn er zurückkehrte, deswegen hatte er es nicht eilig, zum Kloster zu gehen und begab sich stattdessen nach Blaubeuren zum Markt. Hier erfuhr er, dass die Frau des Schmieds an einem Geschwür gestorben war.

„Sie war ganz nass, so heißt es“, hörte er den Tratsch der Dorffrauen. „Als ob sie draußen im Regen gewesen wäre oder ein Bad genommen hätte, dabei hatte sie schon wochenlang nicht mehr aufstehen können.“

„Die Arme, nun ist sie ihren seligen Kindern gefolgt“, seufzte die andere Marktfrau.

„Sicher ist sie aus Gram gestorben“, mischte sich eine dritte Frau ein.

Kilian konnte es nicht mehr ertragen. Er ging zum Kloster zurück, wo er schon vermisst worden war. Er erhielt Schläge und zur Strafe ein einjähriges Sprechverbot.

Doch er nahm sein Schicksal an und ertrug die Strafe geduldig und stumm.

In der nächsten Johannisnacht schlich er wieder an den Blautopf. Er wusste nicht, was es war – die Magie der Hexen, die Gnade Marias oder die Macht der Quelle, doch wieder traf er seine Geliebte, so jung und schön wie nie zuvor, und sie genossen gemeinsam das Wunder der Liebe.

Jahr für Jahr lebte er so für jene eine Nacht und wusste: ein Tag Glück und Liebe pro Jahr musste und konnte für ein Leben reichen.

Über den Blautopf bei Blaubeuren

Der Blautopf am Ortsrand von Blaubeuren in Baden-Württemberg ist eine Quelle mit etwa 40 Metern Durchmesser, deren Wasser je nach Lichteinfall mal mehr und mal weniger intensiv blau leuchtet. Zusammen mit dem alten Kloster, der Hammerschmiede und den Fachwerkhäusern ist der Blautopf ein beliebtes Ausflugsziel.

Mehr über den Blautopf in Blaubeuren erfahren

Mehr lesen von der Autorin Runa Valgard

Windzeit – Die Tochter des Berserkers von Runa Valgard

Island, 984 n. Chr.
Der Berserker Ivar hat seine Tochter zu einer starken, selbstbewussten jungen Frau erzogen. Heimlich sehnt sich Björk jedoch danach, zu heiraten und eine Familie zugründen. Auf dem Althing in Thingvellir werben zwei ungleiche Brüder um sie: der lebenslustige Thorstein ist ein wagemutiger Krieger, der ernste Rollo ein begnadeter Sänger. Für wen soll sie sich entscheiden, und wird sie, die in der Wildnis aufgewachsen ist, überhaupt eine gute Ehefrau abgeben?
Ihren Vater plagen dazu noch ganz andere Sorgen: Die Götter haben Björk auserwählt, um gegen den neuen Glauben zu kämpfen, der auf Island immer weiter um sich greift – eine Rolle, die einst ihm zugedacht war … 

Bei amazon ansehen