Die Externsteine im Teutoburger Wald ziehen seit jeher Aufmerksamkeit auf sich: Schon in der Altsteinzeit lebten Menschen in ihrer Umgebung, wie Funde von Feuersteinwerkzeugen belegen. Überraschend ist jedoch, dass aus späteren Epochen wie der Jungsteinzeit, Bronze- oder Eisenzeit keine Spuren menschlicher Aktivitäten vorhanden sind. Erst frühestens ab dem 6. Jahrhundert lassen sich wieder menschliche Aktivitäten nachweisen. Das wirft Fragen auf: Wurden sie bewusst gemieden – vielleicht aus Ehrfurcht vor einem als heilig geltenden Ort – oder aber aus Angst vor bösen Geistern?
Die folgende Geschichte greift die offenen Fragen in Form einer Sage auf. Wichtigste Protagonistin: eine mächtige Schamanin – möglicherweise eine Verwandte der Schamanin von Bad Dürrenberg …
Im Bann der Externsteine: Die letzte Reise der Schamanin

von Aura Bassiana
In grauer Vorzeit, als die Menschen noch als Jäger und Sammler im Einklang mit Mutter Natur durch die endlosen Wälder zogen, lebte eine weise Schamanin unter ihrem Stamm. Sie war eine Seherin und Wanderin zwischen den Welten, berufen, im Namen der Gemeinschaft Rat bei den Geistern zu suchen.
Einst begab sich diese Schamanin auf eine Seelenreise, um zu erfahren, wohin die Jäger des Stammes ziehen sollten, damit die Jagd reich und das Wild gnädig sei. Mit ihr trat ihr Krafttier, ein stolzer Rehbock, die Reise durch die Mittelwelt an. Doch kaum waren sie in den Geisterpfaden, geriet der Rehbock in Unruhe. Eine Störung, fern, aber mächtig, durchdrang die feinstofflichen Ebenen.
„Bring mich dorthin“, befahl die Schamanin.
Durch dämmerige Wälder und schimmernde Lichtungen führte sie der Rehbock, immer tiefer in das Herz der Welt. Je näher sie der Quelle der Störung kam, desto mehr fühlte sie das Beben im Gefüge der Welt. Etwas war aus dem Gleichgewicht geraten. Ein fremder Geist war in das Reich der Natur eingedrungen: Er war den Spuren einer neuen Art Mensch gefolgt – Menschen, die nicht mehr zogen, nicht mehr jagten, sondern sich niederließen an einem Ort. Sie hatten Wälder verbrannt und Zäune errichtet. Tiere wurden in Gefangenschaft gehalten, geschlachtet nach Willkür. Sie pflügten die Erde, säten Getreide, als wäre die Mutter aller Dinge ein Knecht.
Die Schamanin sah es mit Staunen und Sorge. Sie verstand das Tun der Menschen und die Vorteile der neuen Lebensweise, doch zugleich fühlte sie den Schmerz von Mutter Erde. Der Mensch hatte begonnen, sich selbst zum Herrscher zu krönen, statt im Einklang zu leben. Auch das Gleichgewicht zwischen Mann und Frau war zerbrochen. Die Frauen, einst geehrt als Hüterinnen des Lebens, waren nun zu Sklavinnen der Männer geworden, gebunden an Haus, Hof und Erbe, ein Teil des Besitzes, und ihre Hauptaufgabe bestand darin, einen Erben zu gebären.
Die Schamanin reiste weiter. Immer mehr Geisttiere schlossen sich ihr an: Wildschweine und Kraniche, Hirsche, ein Biber, ein Igel, Schildkröten und andere. Alle spürten die Unruhe.
Schließlich gelangten sie zu einem Ort, der sich über die sumpfige Ebene erhob wie ein Fingerzeig der Götter – die Externsteine, hoch und uralt, mitten im heutigen Teutoburger Wald. „Wer wagt es, mich zu stören?“ grollte eine tiefe Stimme. Ein Geist trat hervor – seine Augen glühten wie Kohlen, sein Blick durchbohrte die Seele. Die Schamanin erschauerte.
Der Geist starrte sie einen Moment lang verblüfft an. „Eine Frau!“ höhnte er dann. „Eine Frau wagt es, diesen Ort zu betreten, diesen Kraftort, in dem das urmännliche regiert. Stark magst du sein, Weib, aber ich werde dich mir unterwerfen, wie alle Frauen den Männern unterworfen sind.“
Die Schamanin erstarrte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Gleichzeitig spürte sie die Aura des Geistes. In ihm war die Leere der Wüste, aus der er gekommen war – und ein brennender Hass auf das Lebendige. Einst war er von Mutter Natur gekränkt worden. Nun wollte er sich rächen und die Menschen waren seine Werkzeuge. Wenn ich ihn nicht aufhalten kann, wird es niemand tun, erkannte die Schamanin mit Schaudern. Sie sammelte ihren Mut. Die Geisttiere scharten sich um sie.
Der Geist lachte. „Ihr habt mir nichts entgegenzusetzen“, rief er. „Ich bin der Herr der Wüste und des Windes. Ich lasse die Erde beben und das Feuer emporsteigen!“
„Ich bin eins mit der Mutter allen Lebens“, sprach die Schamanin. „Mit der, die nährt und heilt, die Wasser schenkt und Wärme.“
Der Geist schrie vor Wut und schleuderte eine Wand aus Feuer gegen sie. Doch die Schamanin rief die Kräfte der Erde an. Eine gewaltige Wolke formte sich, und aus ihr brach Regen hervor – eine Sturzflut, die das Feuer löschte und die Ebene flutete.
Der Geist rettete sich auf den höchsten Felsturm. “Wehe dir!”, rief er. “Dafür werde ich dich und deine Nachfahren heimsuchen und peinigen, bis ihr euch wünscht, nie geboren worden zu sein.”
„An diesem Ort sollst du bleiben bis ans Ende der Welt“, rief die Schamanin, „gebunden an diesen Ort, gefangen durch das Wasser, das Leben bringt.“
Und so geschah es. Der Geist brüllte und tobte, doch vermochte er nicht mehr, den Ort zwischen den Steinen zu verlassen.
Die Schamanin aber zog sich zurück zu den heiligen Quellen in der Nähe. Ihr Leib jedoch war zu erschöpft, um in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Sie ging ein in die Welt der Ahnen, wurde ein Hütergeist jener Quellen und der Externsteine, ein Schutz für all jene, die noch auf den Pfaden der Erde wandeln.
Doch sie wusste: Der Funke, den der Geist gesät hatte, brannte fortan in den Herzen der Menschen – ein Feuer des Willens, das die Welt verändern würde. Zugleich spürte sie, dass der Geist zwar gebannt, aber nicht besiegt war. Eines Tages würde er befreit werden und erneut großes Unglück über die Welt bringen.
Auch die Menschen spürten, welches Böse an den Externsteinen lauerte. manchmal wagte sich ein neugieriger Mensch zur Lichtung vor, um einen Blick auf die Felsen zu erhaschen. Mit einem Gefühl des Grauens zog er sich alsbald wieder in den Wald zurück.
Bis im 6. Jahrhundert ein Bischof beschloss, dass es an der Zeit war, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Er ließ Grotten und einen Altar und Kreuze in den Fels schlagen. Tatsächlich ist heute vom bösen Geist der Externsteine kaum noch etwas zu spüren. Bleibt die Frage: Wurde das Böse für immer gebunden – oder lediglich befreit …?
Nachwort: Mythos und Geschichte der Externsteine
Dieser Mythos rund um die Externsteine basiert durchaus auf wissenschaftlichen und archäologischen Erkenntnissen, ausgehend von der neolithischen Revolution, die vor 12.000 Jahren am Göbekli Tepe in der Türkei seinen Anfang nahm.
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