Boromir Reloaded

Eine Herr der Ringe Fanfiction Story – Was wäre gewesen, wenn Boromir nicht gestorben wäre?

1.  Die Ebene von Rohan

Boromir war nicht wirklich langsamer als Aragorn, Gimli und Legolas. Er stapfte zwar als Letzter und mit einigem Abstand hinter ihnen her, aber das war nicht darauf zurückzuführen, dass er nicht so schnell laufen konnte. Nein, er hatte nur viel Stoff zum Nachdenken. Seine Gedanken waren schon die ganze, erst kürzlich vergangene Nacht in seltsamen Bahnen herumgeirrt und hatten ihn kaum schlafen lassen. Andauerndes Gedankenchaos. Aber wie viel hatte er auch zu bedenken! Schließlich war er  schuld, dass Merry und Pippin gefangen waren. Er hatte die Ringgemeinschaft zerbrochen, da mochten die anderen sagen, was sie wollten.
Frodo und Sam mussten alleine gehen. Zu neunt hätten wir viel zu viel Aufsehen erregt! hatte Legolas versucht, ihn zu trösten.
Und Aragorn hatte auf seine ruhige, aber bestimmte Art erklärt:
Boromir, du ersehntest den Ring am meisten von uns allen, weil du auch am stärksten mit dem dunklen Schatten direkt konfrontiert worden bist. Aber jetzt ist es vorbei, Du hast schon große Taten vollbracht und noch größere werden folgen. Also nimm es nicht so schwer. Das ist nicht das Ende der Welt!
Und vielleicht war es doch das Ende der Welt. Gewiss, es war sicherlich das Beste, diesen Ring zu zerstören und das Übel ein für alle mal aus der Welt zu schaffen. Aber was, wenn es nicht möglich war? Frodo und Sam mussten ganz allein hinein nach Mordor. Wer würde ihnen schon groß helfen, würden sie überhaupt den Weg finden? Wäre es nicht doch am Besten für alle Beteiligten gewesen, wenn der Ring nach Minas Tirith gelangt wäre?
Aber was geschehen war, war geschehen, der Ring und Boromir gingen getrennte Wege und jetzt blieb nur noch eine winzige Hoffnung, dass vielleicht doch noch alles gut ausgeführt werden würde.
Aber wenn der Ring wirklich sein gewesen wäre…
Wenn er es sich recht überlegte…
Wie sehr hatte er es begehrt! Wie sehr hatte er begehrt, den Ring in seinen Besitz zu bringen!  Vielleicht hatten alle doch recht gehabt und es war unmöglich, den Ring zu beherrschen. Seit er mit dem Ringträger aufgebrochen war, hatte er nicht mehr richtig schlafen können, und wenn er schlief, hatte er nur von einem  dem Einem  geträumt. Richtig besessen war er gewesen, das musste er zugeben. Alle seine Gedanken hatten beständig nur um ihn gekreist. Ständig hatte er ihn vor seinem inneren Auge gesehen!
Vielleicht hatten sie wirklich alle recht behalten und es war das einzig richtige, ihn zu zerstören  egal, wie viel Hoffnung auf Erfolg es geben mochte.

Irgendwie war es schon sehr seltsam. Nur er, er allein hatte den Ring begehrt. Und kein anderer. Nicht der Elb  aber das war ja beinahe klar gewesen, was mochte man von diesen Naturburschen auch anderes erwarten! Auch nicht der Zwerg  das war schon erstaunlicher, wo die Zwerge doch Schmuck, prächtige Juwelen und überhaupt alles, was glänzt, so liebten. Und vor allem – auch Aragorn hatte den Ring nicht begehrt.
Sei es, weil Aragorn zu schwach war oder zu dumm, um den Ring überhaupt erst in Erwägung zu ziehen  dass er gar nicht wusste, was es bedeutete, den einen Ring zu besitzen  oder sei es, weil er, Boromir, einfach der größte Narr der Weltgeschichte war und Aragorn klar erkannt hatte, was es mit diesem Ring auf sich hatte. Vielleicht war ja überhaupt alles nur eine List von Sauron und der Ring war seine heimtückischste Falle  der, der den Ring als sein Eigen deklarierte, würde Mittelerde ins Chaos stürzen und Sauron würde über alles triumphieren.
Hm, wenn er sich das alles so überlegte  vermutlich war es einfach das Beste, so, wie es jetzt war. Der Ring war unerreichbar fern von ihm und er konnte ihn nicht mehr erreichen, er hatte keinen Einfluss mehr auf das Schicksal des Ringes und es konnte gut ausgehen oder schlecht  er, Boromir, trug nicht mehr die Verantwortung von dem Ganzen.

Bei diesem Gedanken wurde er allmählich ruhiger. Warum sich aufregen, er konnte eh nicht mehr viel machen. Viel lieber sollte er sich jetzt auf die nächste Aufgabe konzentrieren  die Befreiung von Merry und Pippin nämlich. Schon seltsam, wie sehr sie ihm ans Herz gewachsen waren, diese kleinen, lächerlichen Knirpschen… Die doch viel zäher sein mochten, als manch einer es glauben würde.
Ja, er war fest entschlossen, alles zu ihrer Rettung zu unternehmen. Und sollte es auch sein Leben kosten!
Aber mittlerweile war er sich auch nicht mehr so sicher, ob es die beste Entscheidung gewesen war. Was wohl würde sein Vater sagen, wenn er wüsste, dass er hier in Rohan einer Horde Orks hinterherjagte, die Halblinge gefangen hatten? Wäre es nicht besser gewesen, sofort nach Minas Tirith zurückzukehren? Schließlich war mit ihm ein fähiger Feldherr verschwunden. Und würde Faramir es alleine schaffen, die feindlichen Truppen zurückzudrängen? Sein Vater zog ja schließlich nicht mehr ins Gefecht und was wollte er im weißen Turm schon groß gegen die Gegner ausrichten? Die Männer brauchten einen tapferen, tatkräftigen Anführer!
Aber nun  fern war er der Heimat, auf großer Jagd war er und musste hoffen, dass Minas Tirith auch ohne ihn auskommen würde. Warum hatte er sich nur dieser vermutlich nutzlosen Jagd angeschlossen? Sie würden die Orks niemals einholen, da konnten sie noch so viel herumhetzten. Und wenn Aragorn recht hatte und die Orks die Hobbits nicht unterwegs töteten, dann wären sie danach bei saruman. Und wie konnten sie hoffen, die Halblinge aus dessen Klauen zu befreien?
Oh, was war er dumm und leichtsinnig gewesen, hinter ihnen herzurennen! Gut, er hatte gedacht, er müsste etwas gut machen wegen der Sache mit Frodo…. Aber trotzdem! Oh, alles, aber auch alles machte er falsch! Manchmal könnte er sich…

Nanu, was war denn los? Seine drei Gefährten waren stehengeblieben und beobachteten kritisch das Umland.
‑Dort! sagte Aragorn und deutete mit dem Finger auf eine seltsame… Staubwolke, die in der Ebene von Rohan aufgetaucht war.
‑Reiter!
‑Wer mag das sein? fragte Gimli erstaunt. ‑Die Gegend ist doch so öde und leer.
‑Das sind sicher Reiter von Rohan! Endlich mal eine gute Nachricht!
‑Sicher hast du recht, Boromir. Aber ich weiß nicht, ob wir uns darüber freuen sollen! entgegnete Legolas mit besorgtem Gesichtsausdruck. ‑Denn streng sind sie und haben es nicht gerne, wenn fremde Leute in ihrer Mark herumstromern.
‑Fremden gegenüber sind sie sehr verschlossen, das stimmt! entgegnete Boromir. ‑Aber ich bin für sie kein Fremder. Lasst mich mit ihnen reden und ich bin sicher, es wird uns nicht zum Nachteil gereichen. Lasst uns diese Reiter erwarten!
Stolz stellte er sich auf einen Hügel in der Nähe, damit er auch wirklich gut zu sehen war und sie ihn nicht etwa verpassten.
‑Reiter von Rohan! dachte er bei sich. ‑Etwas Glücklicheres hätte uns nicht widerfahren können! Furchtlos und tapfer sind sie, treue Bundesgenossen Gondors. Ach, wäre doch Eomer bei ihnen. Oder wenigstens Theoden!
Zeit verging. Näher kamen die Reiter und immer näher. Und sie hatten ihn wohl entdeckt, denn sie hielten nun direkt auf ihn zu. Schon konnte er die einzelnen Reiter und Tiere voneinander unterscheiden.
‑Sie wirken furchteinflößend genug, um die Feinde schon durch ihren bloßen Anblick in Furcht und Schrecken zu versetzten! dachte er bei sich.
Nachdenklich drehte er sich zu seinen Gefährten um.
‑Ich kenne sie gut, diese Reiter von Rohan! Am besten ist es, wenn ich mit ihnene spreche, weil ich den einen oder anderen von ihnen gut kenne! Sie sind auch schnell beleidigt und aufbrausend, und es ist schwierig, bei ihnen die richtigen Worte zu finden!
‑Ja, am besten redest du mit diesen Pferdeherren! brummelte Gimli. ‑Mir sollen sie mit ihren riesigen Viechern nicht zu nahe kommen! Aber genau das scheinen sie vorzuhaben! Hoffentlich trampeln die uns nicht einfach über den Haufen! Einladend genug stehen wir schließlich da!
Da mochte Gimli durchaus recht haben! Was nütze es ihnen, wenn die Reiter zuerst angriffen und später Fragen stellten? Schließlich hatten sie hier in der Mark strenggenommen nichts zu suchen.
Kurzentschlossen ergriff er sein Horn und stieß fest hinein, dass die Hügel bebten. Er war der Meinung, dass es wirklich gut klang. So… erhaben! Und die Ebene von Rohan hatte eine gute Akustik. War vielleicht darauf zurückzuführen, dass die Leute von Rohan auch alle sehr musikalisch veranlagt waren… Obwohl… Auf jeden Fall war es eine gute Idee gewesen, ins Horn zu blasen. Die beste seit einiger Zeit, überlegte er.
Aber Aragorn schien das nicht zu finden.
‑Hältst du das für klug? fragte er scharf, richtig ungehalten sogar. ‑Jetzt wissen alle Orks und sonstige in der Gegend, dass du hier bist.
‑Na und? Sollen sie doch ruhig! Jetzt wissen sie, mit wem sie es zu tun haben!
Manchmal ging ihm Aragorn schon ein kleines bisschen auf die Nerven.
Und was tat sich bei den Reitern? Irrte er sich, oder kamen sie schneller heran? Besonders einer schien es besonders eilig zu haben. Ob er den wohl kannte? Schwer zu sagen. Die Rüstung verdeckte so viel und alle Rohirrim hatten blonde Haare. Jetzt machte der Reiter langsamer, winkte den anderen Reitern, die stehenblieben… Und auch er, ihr Anführer hielt sein Tier an, stieg ab und kam mit großen Schritten auf ihn zugeeilt… Doch, er kannte diesen Recken!
‑Eomer, Eomunds Sohn! rief er aus. Von allen Reitern von Rohan war ihm dieser mit der Liebste.
‑Boromir, Denethors Sohn! rief der so Angesprochene und auch er klang erfreut.
Dann umarmten sich die beiden Männer. Eomer roch ziemlich stark nach Pferd. Aber was wollte man von ihm auch groß anderes erwaten! Er wollte gar nicht wissen, wonach er slber riechen mochte!
Schließlich lösten sie sich voneinander und betrachteten sich gegenseitig. Ja, Eomer sah wirklich nicht schlecht aus! Ein würdiger Feldmarschall der Riddermark!
‑Lang ist es her, dass du zuletzt unser Land betratst. Und auch diesmal bist du uns willkommen! sagte schließlich Eomer und seine Augen leuchteten freudig. ‑Doch kommst du nicht aus der Richtung, aus der wir dich erwartet haben.
‑Fürwar, eine seltsame Reise habe ich hinter mir! Nach Bruchtal bin ich gelangt und dann hat es mich auf seltsamen Pfaden über das Nebelgebirge über Lothlorien zu den Argonath verschlagen und…
Aragorn hüstelte etwas seltsam.
‑Aber ich fürchte, die Zeit ist knapp, um alles darüber zu berichten. Denn wir verfolgen eine Horde Orks, die zwei unserer Freunde entführt haben, schaltete er sich auch promt ein. Manchmal ging ihm Aragorn wirklich auf die Nerven. Glaubte er denn, dass er das nicht wusste? Man würde ja wohl trotzdem kurze Zeit für den Herrn dieser Gegend hier aufwenden können!
‑Oh! meinte Eomer und unterbrach damit seine Gedanken. Sein Freund wirkte etwas besorgt.
‑Um diese Orks braucht Ihr Euch keine Sorgen mehr zu machen, denn wir haben sie überfallen und alle von ihnen getötet. Aber leider haben wir keine Spur von etwas anderem als von Orks entdeckt.
‑Vielleicht habt Ihr sie übersehen, sie sind relativ klein. Kinder in euren Augen.
Diesmal war es wieder Boromir gelungen, das Gespräch an sich zu ziehen.
‑Nein, Kinder haben wir keine gesehen. Und sie wären uns sicher aufgefallen, wir haben nämlich alle gründlich durchsucht. Aber was haben diese Kinder besonderes an sich, dass du sie explizit deine  Freunde nennst?
‑Nun, eigentlich sind sie keine Kinder, sondern Hobbits.
‑Hobbits? Was sind denn das für welche?
‑Kleine Kerlchen mit dem Herzen und dem Mut des wilden Löwen aus den südlichen Landen. Man darf sie nicht nach ihrer Größe beurteilen.
‑Du sprichst von seltsamen Dingen. In der Tat, merkwürdig muss deine Reise gewesen sein. Doch du sagtest, ihr habt nicht viel Zeit. Gerne würde ich Euch einfach so ziehen lassen, doch leider steht in der goldenen Halle von Edoras nicht alles zum besten.
‑Schlangenzunge.
‑Ja, Schlangenzunge! Wie bitter klang doch die Stimmer von Eomer.
‑Schlangenzunge, unser aller Fluch. Auf seinen Rat hin hat König Theoden befohlen, alle Fremden, die in der Mark herumreiten, gefangen zu ihm zu bringen. Das gilt also auch für Euch. Ihr seid natürlich kein Fremder, aber Eure Gefährten…
‑Meine Gefährten mögen Euch seltsam erscheinen, aber auch sie sind tapfere Männer und wackere Krieger. Sieh hier zu meiner Rechten Aragorn, Arathorns Sohn, einen tapferen Waldläufer aus dem Norden, dann zu meiner Linken Gimli Gloinssohn, einen Zwerg vom Einsamen Berg und auch Legolas, einen Elben aus dem Düsterwald.
‑Ich sehe sie und fürwahr, seltsam dünkt mich ihre Anwesenheit in diesen Landen. Und seltsam wird sie auch Theoden dünken, wenn er durch meinen Mund von ihnen erfahren wird.
‑Ja, das glaube ich dir aufs Wort. Aber ich fürchte, schon viel zu lange verweilen wir hier. Wir müssen schnell weiter, und nach unseren Freunden suchen!
‑Wie gut kann ich Euch verstehen, Boromir. Gern würde ich dich gerne an meiner Seite wissen, wenn wir nach Edoras zurückreiten, aber ich fürchte, Ihr seid der Einzige, den ich guten Gewissens frei in diesen Landen herumstreifen lassen kann. Die anderen müssen mir, so fürchte ich, folgen!
‑Du weißt, Eomer, dass ich durchaus ein mutiger und tapferer Mann bin, aber zu diesen Zeiten ist es Wahnsinn, alleine unterwegs zu sein und es ist auch möglich, dass dieses Unternehmen scheitert, wenn nicht wenigstens drei zusammen reiten. Außerdem habe ich meine Gefährten sehr lieb gewonnen und trenne mich nur ungern von ihnen. Wisse, dass ich ihnen vertraue wie meinem eigenen Bruder!
‑Viel Wahrheit liegt in deinen Worten, die Zeiten sind sehr unsicher. Aber wenn ich mit leeren Händen vor dem Thron meines Königs erscheine, wird es ganz gewiss unangenehme Konsequenzen haben. Für alle.
‑Recht hast du, Eomer, und ich verstehe deine Worte nur zu gut. Aber was würdest du sagen, wenn ich als Bürgen dir nach Edoras folge und meine Gefährten allein nach unseren Freunden weitersuchen?
Eomer betrachtete einige Zeit Aragorn, Legolas und besonders Gimli. Dann nickte er schließlich.
‑So sei es denn. Reite mit uns und lass uns hoffen, dass deine Gefährten alles gut ausführen. Damit sie besser vorwärts kommen, bin ich auch bereit, ihnen zwei Pferde mitzugeben, denn wie du siehst, sind drei Sättel leer. Allerdings werden dann zwei auf einem Tier reiten müssen, denn das Dritte brauchst auf jeden Fall du.
‑Ihr seid sehr gütig, Herr Eomer! schaltete sich Gimli in die Unterhaltung ein. ‑Aber zwei Tiere reichen uns völlig. Ich werde nämlich zu Fuß gehen!
‑Sei nicht albern, Gimli! lachte Legolas. ‑Du bist zwar in der Tat ein guter Läufer, aber ob du es wirklich mit der Schnelligkeit eines Pferdes aufnehmen kannst… Reite mit mir, und ich sorge dafür, dass du nicht herunterfällst!
‑Wenn du meinst!

Schießlich ware alle fertig. Boromir saß auf seinem Pferd und auch Gimli, Aragorn und Leogolas und auch Eomer waren auf ihre Tiere gestiegen.
‑Lebt wohl, meine Freunde! rief Boromir. ‑Bis wir uns wiedersehen!
‑Ich glaube nicht, dass das lange dauern wird! meinte Aragorn, und seine grauen Augen blickten wie immer sehr ernst und ruhig.
‑Herr Eomer  Ihr seid sehr gütig zu uns!
‑Keine Ursache, Herr Aragorn. Reitet gut!
Und er zügelte sein Pferd, rief: ‑Auf, Eorlingas! Und schon stoben sie davon.

2. Edoras

Jaja, wie lang war er schon nicht mehr geritten! Gewisse Körperteile begannen, sich bemerkbar zu machen. Seit er in Tharbad sein Pferd verloren hatte… Ach, da würde er noch Rechenschaft gegenüber den Rohirrim ablegen müssen. Die hingen aber auch garzusehr an diesen Viechern. Gut, man kam viel schneller vorwärts auf einem und sie sahen schon toll aus und edel und waren sicher intelligenter als manche Kuh  aber sie waren in erster Linie ein Fortbewegungsmittel und in zweiter Linie Tiere. Und – nun ja! Wenigstens aber teilten die Rohirrim nicht ihre Häuser mit den Viechern. So verrückt waren sie dann doch nicht. Es fehlte grade noch, dass er mit einem Hottehü zusammen in einem Bett liegen müsste! Aber da waren die Rohirrim sicher auch dagegen! Denn ob es einem Pferd wohl so gut gefallen würde, in einem menschlichen Bett zu schlafen? Das wär ja  Tierquälerei!
Die Rohirrim schliefen ja aber auch zum Glück nicht nicht im Stall. Meinte er sich zu erinnern.
‑Ich denk heute echt einen Stuss zam! überlegte er sich. ‑Meine Güte! Ach ja, aber ich muss sagen: Es gefällt mir jetzt trotzdem viel besser, wie die Dinge sich entwickeln! Von Rohan ist es sicher kein Problem mehr, weiter nach Minas Tirith zu gelangen!
Ja, doch, diese Reiter waren gekommen wie gerufen! Aber seltsam war es doch mit Merry und Pippin! Wo mochten sie wohl sein? Sicher hatten die Orks sie gefressen! Warum hatte er auch nicht besser auf sie aufgepasst! Er war ihnen hinterhergelaufen, schön und gut, wie Aragorn befohlen hatte. Aber dann war diese peinliche Sache passiert, an die er lieber gar nicht denken wollte…. Und als er dann endlich jenen Ort erreicht hatte, hatte er gerade nur noch stämmige Orkrücken gesehen und über zwei von ihnen waren zwei gefesselte Hobbits gehangen! Na, jetzt würden diese Orks auf jeden Fall keine Schandtaten mehr begehen! Trotzdem… wie traurig mit Merry und Pippin…

Aber er musste jetzt vorwärts blicken. Neue Herausforderungen harrten seiner! Es galt, Minas Tirith zu entsetzen… Und er konnte, wenn er jetzt eh unterwegs war nach Edoras, doch eigentlich auch gleich um Unterstützung für Gondor bitten. Wozu war man schließlich Bundesgenosse!

Ach, herrje, gewisse Körperstellen begannen mittlerweile wirklich ein wenig zu drücken! Warum beeilte sich Eomer nur so! Man konnte sich ja noch nicht mal richtig unterhalten, so scharf war der Ritt! Gut, ihm sollte es recht sein. Dann brauchte er seine Geschichte nur einmal in der goldenen Halle vorzutragen und dann nimmer mehr. Aber trotzdem…. Eine Pause wäre mal gar nicht so schlecht.

Irgendwann machten sie tatsächlich eine kurze Pause!
‑Sicher hast du viel zu erzählen, Boromir. Und in Edoras wirst du mehr als genug Gelegenheit dazu haben. Nimm dich aber in acht vor Schlangenzunge. Viel zu leicht werden ehrenhafte Männer in den Kerker geworfen! meinte Eomer und reichte ihm ein Stück Brot.
‑Das soll er bei mir nicht wagen. Mein Vater wird Edoras sonst mit Krieg überziehen! Aber ach, wie sehr würde sich der schwarze Schatten freuen, wenn die Bundesgenossen untereinander Krieg führen!
‑Das würde ihn in der Tat sehr freuen. Nachdenklich starrte Eomer vor sich hin.
‑Wann werden wir ungefähr Edoras erreichen? erkundigte sich schließlich Boromir.
‑Ich denke, noch vor Sonnenuntergang! entgegnete sein Freund.
Na toll! Bis Sonnenuntergang war es noch lange hin! Er konnte sich wirklich besseres vorstellen als den ganzen Tag zu reiten… Aber immernoch besser als zu Fuß!
Noch viel mehr Zeit, um sich wirren, konfusen, blödsinnigen Gedanken hinzugeben….

Bald würde er in Edoras sein. Was mochte ihn dort erwarten? Schlangenzunge war sicher ein Minuspunkt. Mit Theoden schien man auch immer weniger reden zu können. Einziger Pluspunkt:
Eowyn. Eowyn, Eomunds Tochter. Wie lang war es her, dass er sie gesehen hatte… dass er an sie gedacht hatte! Seit er nach Bruchtal gekommen war, hatte nur eine Sache in wirklich gefesselt. Und davor…. Auf dem langen Weg von Rohan nach Bruchtal… Ach  wie gut erinnerte er sich noch an sie, jetzt, wo er nach langer Zeit zum ersten Mal wieder an sie dachte…
Wie ihr blondes Haar vom Wind um ihren Kopf geweht worden war… Wie lange er eine immer kleiner werdende, weiße Gestalt auf der Terrasse vor der goldenen Halle gesehen hatte…
Ach Eowyn, schönste aller Frauen…
Sie hatten sich nur kurz unterhalten können. Worüber hatten sie nochmal geredet? Er erinnerte sich nur noch an ihre schönen Augen, die blonden Haare, die schlanke Gestalt… Eine würdige Königin…!
Oh, nein! Er erinnerte sich wieder, wovon sie gesprochen hatten.
‑Oh verflucht seist du, jugendlicher Leichtsinn! murmelte er.
Er hatte ihr erzählt, dass er in absehbarer Zeit König von Gondor sein würde, weil der Erbe von Isildur nichts taugte! Ach herrje! Hoffentlich erinnerte sie sich nicht mehr daran! Aber sie war damals gebührend beeindruckt gewesen! Oh, warum hatte er den Mund nicht halten können!
‑Oh, hoffentlich hat sie es vergessen! dachte er.

Und sie hatte es natürlich nicht vergessen.

Wie sehr hatte er sich gefreut, als die Rohan  Reiter aufgetaucht waren! Vorbei war der öde Fußmarsch, er hatte eine gute Entschuldigung, nicht mehr hinter den Hobbits herrennen zu müssen  auch wenn sie ihn gewaltig dauerten  er würde Eowyn wiedersehen und er würde schnell nach Minas Tirith zurückkehren können. Hatte er sich so gedacht. Aber natürlich war wieder mal alles ein wenig anders verlaufen.
Eomer hatte ihn ja schon gewarnt, dass es in Rohan nicht zum Besten stand. Aber so schlimm hatte er es sich auch wieder nicht vorgestellt!
König Theoden sah aus wie ein Gespenst, bleiche Haut, wirres weißes Haar, trübe Augen. Er redete kaum und wenn, verstand man ihn schlecht und er schien seinem Amt in keinster Weise mehr gewachsen zu sein.
Statt dessen  Grima! Grima Schlangenzunge, der ihn nach seinen Erlebnissen fragte  der ihn fragte, wo das Pferd war, dass sie ihm geliehen hatten  der laut lachte, als er von Gandalfs Tod erfuhr  und der Eomer wütend anfuhr, als dieser erklärte, dass Boromir nicht allein unterwegs gewesen war.
‑Und wo sind jene? Mein König, dein Schwestersohn hat schwer gegen Eure Gesetzte verstoßen! Er hat es nicht verdient, weiterhin seine Füße in dieser Halle zu haben!
Boromir spürte genau gespürt, wie sich Eomers Muskeln spannen, wie er Anstalten machte, auf Grima loszugehen…
‑Lass, es, Eomer! Das will er doch! Versuch, ruhiges Blut zu bewahren! zischte Boromir ihm zu.
Oh, er wusste zu genau, was es für ein Gefühl war, hilflos zusehen zu müssen und nichts tun zu können. Und er konnte sich auch denken, wie Eomer sich fühlen musste. Sein Onkel in einem solchen Zustand zu erblicken und sein eigenes Zuhause in solchen Händen zu sehen….
Und Eomer hatte sich aber zum Glück wirklich beruhigt und Grima war nicht bewusstlos am Boden gelegen. Und sein Freund nicht im Kerker. Aber es war interessant  was würde wohl passieren, sollte Schlangenzunge ein kleines… Missgeschick widerfahren? Hinter wem würden die Wachen dann stehen? Und was würde König Theoden dann tun?
Aber genug von solchen Gedanken.
Schließlich hatte Eowyn ihm endlich eine Suppe gebracht und er merkte jetzt erst, wie hungrig der Ritt und das ewige Erzählen gemacht hatte. Also ergriff er den Löffel, nahm ein bisschen Suppe auf und wollte sie zum Mund führen…
‑Und dieser Balrog hat Gandalf Sturmkrähe mit in den Abgrund gerissen? Komm, erzähl noch mal… Das hatte ihm noch gefehlt. Die giftgrünen Augen und das bleiche Gesicht Grimas waren ganz nah an seinem. Schlangenzunge hatte sich auf der anderen Seite des Tisches niedergelassen, beugte sich jetzt zu Boromir herüber und starrte ihn an. Bäh! Schlangenzunge trug nicht gerade zu seinem Wohlbefinden bei… Und er stank!
‑Eowyn, bringt mir doch bitte auch etwas Suppe! bat Grima und Eowyn stand auf und verschwand. Dieses Ekel von Schlangenzunge! Sie herumzukommandieren als sei sie seine Dienstmagd… Am liebsten würde er…
Plötzlich fühlte er Eomers Hand auf seinem Arm.
‑versuch, ruhiges Blut zu bewahren! flüsterte sein Freund.
Er musste ein wenig lächeln und fühlte sich dann tatsächlich bereit, noch einmal jene dramatische Szene zu erzählen. Grima hörte ausgesprochen gespannt und interessiert zu und kicherte fortwährend vor sich hin und stellte jede menge Zwischenfragen, dass die ganze Geschichte dreimal so lange dauerte wie notwendig.
Schließlich aber war Boromir doch endlich fertig geworden und schloss mit den Worten:
‑Und Aragorn führte uns dann zum goldenen Wald. Und wollte sich gerade über seine Suppe hermachen, wieder führte er den Löffel zum Mund, da…
‑Aragorn! sagte Grima und sein Gesicht war sehr spöttisch.
‑Aragorn, Arathorns Sohn, jemand, den gewiss alle kennen… Denn er ist so mächtig und klug, dass er die Gemeinschaft weiterführt, obwohl sie doch den künftigen König von Gondor beinhaltet, den edlen Boromir, Denethorns Sohn… Doch Boromir ordnet sich klaglos einem Waldläufer aus dem Norden unter…
Er hätte diese Ratte umbringen mögen. Wieder fühlte er Eomers Hand auf seinem Arm und das war auch bitter nötig, sonst hätte er ihn umgebracht!
Jetzt war genau das eingetroffen, was er am meisten von allem gefürchtet hatte an jenem Tag. Er musste Farbe bekennen.
Warum hatte er nicht von Anfang an von Aragorn erzählt? Was hatte ihn zurückgehalten? Warum nur war er der größte Idiot, der unter diesem Himmel wandelte? Und was sollte er jetzt sagen?
Schließlich begann er zu sprechen.

‑Jener Aragorn ist nicht irgendein Mensch aus dem Norden, kein gewöhnlicher Waldläufer  sondern – er holte tief Luft – ‑er ist Isildurs Erbe und der rechtmäßige König von Gondor.
Schweigen. Drei Augenpaare starrten ihn an. Er nahm wieder etwas Suppe auf den Löffel, führte ihn zum Mund… Grimas Hand fuhr auf Boromirs Arm nieder und Boromir ließ erschrocken den Löffel  in die Suppe zurückfallen.  Suppe spritzte über den Tisch und benetzte Boromir und Eomer und Eowyn und nicht zuletzt Grima. Aber dem war das scheinbar egal. Er hielt Boromir noch immer am Arm fest.
‑Was? rief er aufgeregt und Speichel floss aus seinem Mundwinkel und tropfte… in die Suppe…
‑Na, die dürfte mittlerweile eh kalt sein! dachte Boromir und überlegte sich, dass Grima auf einer Totenbahre sicher viel sympathischer aussah… Er schüttelte Grima verärgert ab und schüttelte seinen Arm. Diese Ratte wagte es, ihn anzufassen…
‑Was? rief Grima wieder. ‑Der rechtmäßige König von Gondor?
‑Aber  ich dachte  das seid Ihr? fragte Eowyn. Ihre blauen Augen suchten die seinen, ihr Blick fesselte ihn…
‑Und sie hat es nicht vergessen! fiel ihm wieder ein. Langsam schüttelte er den Kopf  wie sich von einem Zauberbann zu befreien und kam allmählich wieder dazu, einen klaren Gedanken zu fassen. Er richtete sich auf der unbequemen Holzbank auf  und begann erneut, zu sprechen.
‑Meine Worte, die ich damals an Euch in dieser Halle richtete  dass ich einst König von Gondor sein würde  waren leichtfertig gesprochen. Damals glaubte ich noch, was mein Vater immer gesagt hatte  dass die Linie der Könige unterbrochen worden sei und es keinen Erben Isildurs mehr gäbe. Und dass eines Tages ich König sein würde. Und wenn man das vom eigenen Vater hört, glaubt man es natürlich sofort, vor allem, wenn es so positiv klingt. Nur hatte mein Vater wohl leider nichts von jenem Aragorn, Arathorns Sohn erfahren.
In Bruchtal war es aber wohl bekannter, denn dort ist er aufgewachsen  und bevor wir aufbrachen, ist Narsil wieder neu geschmiedet worden!
‑Also ist jene Sagengestalt tatsächlich wieder aufgetaucht!stellte Eomer ruhig fest.
‑Ja, in der Tat!
‑Und was ist er für ein Mensch? Eomer bekundigte reges Interesse an Aragorn und wie seltsam hätte es wohl geklungen, wenn er, Boromir, nicht voll des Lobes gewesen wäre.
‑Er ist ein sehr aufrechter Mensch, aber auch sehr verschlossen. Er lacht kaum, seine Miene ist fast immer ernst. Er strahlt eine gewisse Würde aus, egal was er tut.
‑Das klingt ja alles schön und gut! schaltete sich Eowyn ein. ‑Aber ein altes Schwert und Verwandtschaft machen noch lange keinen guten König!
Richtig verächtlich kamen die Worte aus ihrem Mund. ‑Was hat er denn sonst Großes geleistet, jener Aragorn? Hat er Heldentaten vollbracht? Hat er im Krieg gekämpft? Wieso hat man seinen Namen noch nie gehört?
‑Eine berechtigte Frage! meinte Eomer.
Sechs aufmerksame Augen lagen auf Boromir. Wie einfach wäre es, zu sagen, ‑Ja, damit kann er freilich nicht dienen. Aber etwas in einem Hinterstübchen seines Geistes zischte ihm zu: ‑Besser, du sagst die Wahrheit. Denn Aragorn kommt bestimmt hierher! Und dann sieht es seltsam aus, wenn du schlecht über ihn geredet hast! Und ausnahmsweise war Boromir geneigt, dieser Stimme zu vertrauen.
‑Man hat vielleicht seinen Namen nicht gehört, aber ich habe mir sagen lassen, dass er vor einigen Jahren in den Armeen von Gondor  und auch von Rohan gekämpft haben soll!
‑Vor einigen Jahren! Wenn dem so ist, muss das aber schon wirklich einige Zeit her sein! sagte Eomer ruhig. ‑Denn ich entsinne mich nicht, jenen deiner Gefährten schon einmal gesehen zu haben!
‑Ja, aber es ist sicher schon einige längere Zeit her. Ich glaube, es war vor vierzig Jahren oder so.
‑Vierzig Jahre? Grima hatte er ganz vergessen und zuckte zusammen, als der ihm plötzlich ins Ohr plärrte.
‑Vierzig Jahre! rief auch Eowyn aus. ‑Dann müsste er ja mindestens sechzig sein!
‑Das ist aber nicht möglich! meinte Eomer. ‑Ich hab ihn doch gesehen. Er war keinen Tag älter als vierzig!
‑Das mag so scheinen, sagte Boromir, ‑aber er ist kein gewöhnlicher Mensch wie du und ich, sondern aus dem Geblüt der Numenorer. Und das heißt, dass er eine Lebenserwartung von 200 Jahren besitzt!
‑Stimmt, wenn er wirklich Isildurs Erbe ist… murmelte Eomer.
‑Aber wenn er schon achtzig ist, hätte er ja Unmengen von Zeit gehabt, sich einen Namen zu machen! rief Eowyn aus. Sie wirkte so hitzig und empört. Was war nur los mit ihr?
‑Ist er dann eigntlich schon verheiratet? erkundigte sich Grima. Was ging den denn das an? Aber brav und geduldig antwortete Boromir:
‑Verheiratet wohl nicht. Aber in Bruchtal kursierten Gerüchte, dass er verliebt sei in die Tochter von Elrond.
‑In die Tochter von Elrond? Aber die ist sie doch eine Elbin! rief Eowyn erstaunt aus. ‑Er will eine Elbin heiraten!
‑Eine Dreiviertelelbin! murmelte Boromir und dachte zurück an dieses kleine Kerlchen, den Hobbit Bilbo Beutlin, der all das erzählt hatte. War der nicht irgendwie verwandt oder verschwägert mit Frodo? Ach, Frodo… Von ihm hatte er wenigstens nichts gesagt und es hatte hoffentlich den Anschein für die anderen, dass nur sieben Gefährten aufgebrochen waren…
‑Boromir? Jetzt hatte er doch glatt nicht aufgepasst. Eowyn sah ihn nachdenklich an und Eomer rief aus:
‑Aber sicher, verzeih unsere Nachlässigkeit, Boromir, aber du musst sehr müde sein! Wir halten dich hier den ganzen Abend lang auf und du wünschst dir vermutlich nur ein Bett!
Und Eowyn sagte mit ihrer wunderschönen, glockenhellen Stimme:
‑Auch für mich ist es Zeit! und sie verschwand. Drei Männer sahen ihr hinterher.

3. Finsternis

Es war irgendwie ein beschissener Tag heute, überlegte er. Bäh! Und das Stroh stachelte so unter seinem Hintern! Und dunkel und stickig war es… Aber all das machte vermutlich einen Kerker aus.
Wenn sein Vater das wüßte! Was würde er tun? Ein Heer zusammenstellen? Es war eine Katastrophe! Hoffentlich würde Aragorn bald kommen! Doch was würde das schon ausmachen? Was konnte denn auch ein Aragorn schon groß ausrichten? Selbst wenn er von einem Zwerg und einem Elb begleitet wurde…
Plötzlich  schwere Schritte näherten sich von außen. Nanu  bekam er Besuch? Der Kerker wurde aufgestoßen, eine dunkle Gestalt kam herein.
‑Boromir! zischte eine Stimme. ‑Wo bist du?
‑Hier! rief er aus. ‑Eomer! Das bist doch du, oder? Kommst du, um mich hier…? rauszuholen hatte er noch sagen wollen, aber zwei starke Hände umschlossen seinen Hals. Er bekam keine Luft mehr! Seltsam  so lange hatte er schon gekämpft gegen den Feind und manchmal war es schon verdammt knapp gewesen  aber nie so schlimm wie in diesem Augenblick! Überlegte sich Boromir… Und komisch, dass ich in diesem Augenblick soetwas denke… Wo ich doch eigentlich keine Luft mehr habe… Er begann sich zu wehren, schlug mit Händen und Füßen um sich,  tat alles, um sich aus diesem entsetzlichen Griff zu winden… Eomer wollte ihn umbringen! Er schlug und trat um sich, versuchte zu schreien: ‑Eomer! Ich hab nichts getan! Aber er konnte nicht schreien, so fest lagen die Hände um seinen Hals… Er würde sterben, hier, in einem dunklen Kerker von Rohan, dahingemeuchelt von seinem besten Freund… Da, für einem Moment war es ihm gelungen, die Hände hatten seinen Hals nicht mehr in jenem fatalen Würgegriff…
‑Um der Valar willen, Eomer  Eomer! konnte Boromir nur noch keuchen. ‑Du kennst mich… Er wollte noch soviel mehr sagen, aber die Worte wollten nicht aus seiner Kehle hinaus,  gleich würde Eomer beenden, was er angefangen hatte und er, Boromir, hatte nicht mehr die Kraft, sich zu wehren….
Doch nichts geschah fürs erste, die Hände kehrten nicht zurück. Eomer war nah bei ihm, er konnte ihn keuchen hören…
‑Boromir  ich will die Wahrheit wissen! hörte er plötzlich Eomers Stimme in sein Ohr zischen.
‑Hast du getan, was Grima behauptet?
‑N-nein… Du kennst mich doch… Kaum wollten die Worte über seine Lippen kommen, aber endlich waren sie heraus. Er keuchte noch immer, und hatte nach wie vor das Gefühl zu ersticken. Er hörte Eomer herumrascheln.
‑Ah, da ist es! murmelte sein Freund. Und dann:
‑Komm, trink! Wasser rann seine Kehle hinab, klares, kühles Wasser…. ach, tat das gut!
‑Verzeih mir, Boromir! hörte er wieder Eomers Stimme durch die nachtschwarze Finsteris des Kerkers dringen.
‑Verzeih deinem Freund Eomer. Ich ahne es schon, wieder eine neue List von Grima  verflucht sei er! Möge er in Mordors dunkelstem Kerker verrotten! Aber als ich vernahm, du hättest versucht, Eowyn etwas anzutun…
‑Das würde ich nie tun! stieß Boromir heftig hervor. Oh, wie sehr schmerzte doch sein Hals!
‑Pst! machte Eomer.‑Am besten redest du erstmal nicht so viel. Ich fürchte, wir werden auch so noch Zeit genug zum Reden haben! Denn ich habe so das Gefühl, dass wir beide hier eingesperrt sind!
Und er hörte, wie Eomer aufstand. Stroh knisterte und plötzlich brüllte Eomer los:
‑Hallo! Macht sofort die Tür auf! Nichts passierte. Kein Laut war zu hören.
‑Hallo! brüllte Eomer erneut. Dann seufzte er abgrundtief. Wieder Strohgeraschel und jemand setzte sich beinah auf ihn drauf.
‑Verzeih mir, Boromir. Aber es ist so dunkel…
‑Aber…
Pssst! Grima kam zu mir und erzählte, er habe dich einsperren lassen weil du versucht hast, Eowyn was anzutun. Und blöd wie ich war, wollte ich sofort in dein Verlies gebracht werden. Aber nun  die Tür wurde hinter mir geschlossen und wir sind gefangen! Was ist denn nur passiert?
Einige Zeit lang saßen sie schweigend nebeneinander. Dann begann Boromir zu reden.

Eowyns Gesicht war hart gewesen und kalt.
‑Du gedenkst also, nichts gegen diesen Mann zu tun!
‑Eowyn  er ist der rechtmäßige König von Gondor!
‑Vielleicht  vielleicht auch nicht! Ich habe Euch für mutiger  für kämpferischer gehalten! Aber Ihr scheint Euren Titel ohne Probleme an jenen abtreten zu wollen!
‑Er ist würdig, es zu tun! Warum  bei Mordors Gestank verteidigte er nur Aragorn?
‑Aragorn! Wenn man schon Aragorn heißt!
Boromir hatte ihre Hand ergriffen…
‑Eowyn  bitte versteh doch –
‑Lass mich los!
‑Eowyn!

‑Und in dem Moment kam Grima ums Eck mit einer handvoll Bewaffneter. Und die packten mich und schleiften mich in den nächsten Kerker, beendete Boromir seinen Bericht.
Eomer seufzte tief auf.
‑Also hat du sie tatsächlich angerührt!
‑Ja  aber versteh doch- ich hätte ihr niemals ein Leid angetan…
‑Ich weiß, Boromir, ich weiß.
Wieder schweigen beide ein Weilchen.
‑Sie scheint besessen von Aragorn zu sein! murmelte schließlich Boromir.
‑Ja, das ist mir auch aufgefallen! meinte Eomer und fügte dann hinzu:
‑Ich erinnere mich an eure letzte Begenung. Ihr fühltet euch sehr zueinander hingezogen!
‑Wie wahr, wie wahr! Und wie sehr ersehnte ich es, sie wiederzusehen!
‑Sie hat Euch bewundert. Drei Tage sprach sie nur von Euch.
‑Ja  Eowyn  ach, Eomer…
‑Du liebst meine Schwester, ich weiß… Nur bist du leider nicht der einzige.
‑Ja, Eomer. Boromir spürte noch immer fremde Hände auf  seinem Hals.
‑Nicht nur wir, Boromir. Nein, auch Grima.
‑GRIMA?
‑Hast du es noch nicht begriffen? Warum Grima dich so flott hat verhaften lassen? Auch er begehrt sie. Schon viel zu lange schleicht er hinter ihr her und belauert ihre Schritte…
‑Grima… eigentlich hätte ich es mir denken können!
‑Wenn ich ihn erwische… Nun ja, nun sitzen wir beide hier. Er lockte mich hierher  vermutlich in der Hoffnung, dass ich dich umbringe und er deinem Vater einen Schuldigen präsentieren kann.
‑Ach herrje  mein Vater! Wenn er das erfährt!
‑Was wird er dann tun?
‑Ich weiß es nicht, Eomer, ich weiß es nicht! Aber gut, dass er mit seiner Intriege nur teilweise Erfolg hatte…
‑Wenn du wüsstes, wie knapp… Ach Boromir, bitte verzeih mir. Aber ach, Eowyn…
‑Nur zu gut verstehe ich dich, Eomer. Nur zu gut. Auch mir hätten die Hände ausrutschen können, hätte ich solch Ungeheures vernommen. Aber ich versichere dir noch einmal  niemals würde Eowyn von mir ein Leid erfahren.

Es war nicht wirklich bequem im Kerker. Stinkiges Stroh, kärgliche Mahlzeit… Man konnte sich besseres vorstellen. Und die Zeit kroch nur sehr langsam vor sich hin… Was würde wohl sein Vater hören, sollte er dieses vernehmen? Sicher würde er Rohan mit Krieg überziehen! Aber ach  ein Volk, so tapfer und mutig und stark  hilflos ausgeliefert einer solchen Schlange wie Grima! Nun  wenigstens war er nicht alleine. Eomer, sein Freund, war in der selben Lage  und vielleicht würden sie zusammen das eine oder andere noch bewirken können. Wenn nur Grima stürbe…
Wie viel Zeit wohl schon vergangen war? Kein Licht von außen drang herein, keine Ritze, nichts… Oder lag es daran, dass immer noch Dunkelheit herrschte? Dass es noch immer Nacht war? Wenn doch nur Aragorn käme. Aber was konnte der schon tun? Auch wenn er Isildurs Erbe war.
Er hatte keine Befehlsgewalt in Rohan, mit Waffengewalt war nichts zu erreichen… Am wahrscheinlichsten war, dass sie Aragorn hier unten bald besuchen würde. Dann konnten sie einen Klub für gefallene Krieger gründen oder so… Nein, die Chancen waren alle ganz schlecht. Theoden war nicht mehr er selbst und nach Grimas Willen würde er hier wohl ewig verrotten… Aber das würde Grima nicht wagen. Vermutlich würde er ihn irgendwann aus Rohan verbannen. Ja, das war das wahrscheinlichste. Und wegen dieser Affäre würde sich Grima auch sicher weigern, Gondor Verstärkung zukommen zu lassen. Dann wäre Gondor ganz allein…
Er fühlte Eomers Hand an seinem Arm.
‑Sorg dich nicht, mein Freund. Wir werden hier rauskommen und dann werde ich ihn umbringen, jenen Schlangenzunge! Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.
‑Was wird er wohl mit dir machen? Er kann dich doch hier nicht ewig einsperren, sagte Boromir.
‑Das frag ich mich auch. Aber ihm wird schon etwas einfallen, dessen bin ich mir sicher.
Die Zeit verging langsam, schleichend, oder doch nicht? Boromir dämmerte vor sich hin, desgleichen Eomer. Sie redeten kaum, jeder hing düsteren Gedanken nach… Noch immer kein Licht.
‑Die Kerker sind tief unter der Erde! beantwortete Eomer seine unausgesprochene Frage.
‑Hier dringt kein Lichtstrahl hin. Unmöglich zu sagen, wie lange wir schon hier sind! Solch eine Schmach  hier untätig herumsitzen zu müssen, nicht zu wissen, was sich Grima als nächste Teufelei ausgedacht hat…

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen.
‑Eomer  Ihr seid frei! Gandalf Graumantel ist gekommen und hat den König wieder gesund gemacht!
‑Was? Welch glückliche Nachricht bringst du, Hama! Komm, Boromir, dann lass uns sofort zu ihm eilen!
‑Aber… aber Gandalf… ist doch tot! stammelte Boromir erstaunt.
‑Stimmt! stutzte Eomer. ‑Stimmt, das hast du ja schon erzählt. Seltsam. Na, dann wollen wir doch mal sehen.
Sie blinzelten in die Sonne. ‑Wie lange waren wir denn eingesperrt? erkundigte sich Boromir.
‑Zwei Tage! gab Hama zur Antwort.
‑Zwei Tage! Wie lang erschien mir doch die Zeit! Hama  ich bin ja jetzt frei und als freier Mann will ich vor den König treten. Bring mir mein Schwert!
Und Hama eilte davon.

4. Aufbruchstimmung

Boromir stand vor Meduseld und blickte in das weite Tal, hinüber zu den Bergen. Ein seltsamer Tag war dies. Am Morgen noch gefangen, in ein Verlies gesperrt, genoss er jetzt die milde Sonne, die auf Edoras hinab schien. Warm und sanft waren ihre Strahlen, als wollten sie ihn alles Unrecht, dass er erlitten hatte, vergessen machen. Und neben ihm, an seiner Seite, stand Eowyn, die schönste Frau von Rohan, die weiße Dame, und auch sie blickte hinaus in das weite Tal.
‑So reitet Ihr denn heute schon wieder fort! sagte sie schließlich.
‑Ja, so reite ich heute wieder fort.
‑Es ist alles meine Schuld, was Ihr erdulden musstet! brach es plötzlich aus ihr hervor, ‑Und es tut mir von ganzem Herzen leid!
Überrascht blickte er in ihr ernstes, bleiches Gesicht, das ihn so viele Tage auf seiner Reise begleitet hatte.
‑Sagt nicht so was! stieß er heftig hervor. ‑Wenn jemand Schuld hat an der Sache, dann ganz gewiss einzig und alleine Grima, und weder Ihr noch König Theoden kann etwas dafür. Und das habe nicht nur ich gesagt, sondern auch Gandalf.
‑Ja, das stimmt. Gut erinnere ich mich seiner Worte. Doch jener, der soviel Schuld am Schicksal vieler trägt, lebt noch, während manche wegen ihm sterben mussten.
‑Wohl wahr, was Ihr da sprecht, holde Dame, wohl wahr. Doch was nützt den Toten ein weiterer Tod?
‑So sprach auch Gandalf. Doch trotzdem ist mein Herz unzufrieden.
‑Wie gut kann ich Euch verstehen, die Ihr doch unter ihm am meisten zu leiden hattet.
Wie verschlossen wirkte auf einmal ihr Gesicht. Sie war eine wunderschöne, starke Dame, sie brauchte kein Mitleid. Aber dennoch dauerte sie ihn zutiefst. Wie sie dastand  keine Träne war über ihr Gesicht geglitten seit langer Zeit, dessen war er fast sicher. Wäre sie als Mann geboren  was für einen König hätte sie abgegeben!
‑Was denke ich da nur für krauses Zeug! schalt sich Boromir selber. Gerade wollte er wieder das Wort an sie richten – irgendeine belanglose Bemerkung wäre ihm schon eingefallen  als er sah, wie sie den Blick nicht mehr in die Ferne richtete, sondern eine Gestalt, die in fleckiges braun und grün gekleidet war, beobachtete.
‑Dieses dort ist jener, welcher…? fragte sie mit schwer lesbarem Gesichtsausdruck.
Nur zu gut erinnerte er sich an jenes unselige Gespräch.
‑Ja, das ist er, erwiderte Boromir. Mit sehr gemischten Gefühlen beobachtete er Aragorn, wie er mit Eomer redete. Wieso versetzte es ihm nur jedes mal einen Stich ins Herz, wenn sie von Aragorn sprach?
‑Und er wird eines Tages König von Gondor sein, stellte sie fest.
‑Das wird er, wenn noch etwas von Gondor übrig bleiben wird!
‑Und doch hat er bisher noch nicht viel für Gondor getan!
‑Soweit ich weiß, hat er in Gondor Heeresdienste geleistet  wie übrigens auch in Rohan  und er ist in allem, was er tut, sehr erfolgreich.
‑Ihr sprecht von ihm voller Hochachtung!
‑Er ist ein edler Mann.
‑Und es stört Euch nicht, dass er einmal König sein wird.
‑Am Anfang störte es mich gewaltig. Aber jetzt  es ist seltsam. In seiner Anwesenheit habe ich mich manchmal Gefühlt wie ein unreifes Kind zu sein, das überhaupt keine Erfahrung besitzt.
‑Auch ich habe dieses Gefühl in seiner Nähe schon erfahren. Unsympathisch sind mir seine grauen Augen! Ein strenger Mann ist er, und sehr abweisend obendrein. Und über 80 Sommer soll er zählen! Wahrlich eine lange Zeit! Und jene Dame, die er verehrt, wie alt ist die?
‑Nun, jene Dame schon seit noch viel längerer Zeit über das grüne Gras von Mittelerde.
Einen moment sahen sie nur beide nach unten und jeder hing seinen Gedanken nach.
Schließlich war es Eowyn, die das Schweigen brach.
‑So reitet Ihr heute wieder fort?
‑Ja. Meine Stadt braucht mich.
Eowyn sah ihn scharf von der Seite an.
‑Eure Stadt? Was soll das heißen? Werdet Ihr nicht mit den Männern nach Helms Klamm aufbrechen?
‑Nein, edle Frau. Mein Platz ist in Minas Tirith. Ich muss doch in erster Linie an mein Volk denken!
‑Ihr wollt also nicht mit uns in die Schlacht ziehen, sondern lieber wieder nach Hause!
‑Eowyn  daheim braucht man mich nötiger als hier! Wir haben niemanden, der die Stadt bewachen kann! Mein Bruder ist  nun ja  vermutlich einfach nicht der geeignete Mann dafür und Vater ist alt  und er ersehnt meine Ankunft vermutlich dringlichst. Ich muss nach Hause zurückkehren!
‑Aber Boromir  Rohan ist ein Bundesgenosse von Gondor. Und wenn Gondor ruft, wird Rohan kommen! Und wenn Rohan ruft  kommt Gondor nicht?
‑Rohan hat sehr gute Feldherren! König Theoden reitet höchst selbst in die Schlacht  und Eomer ist an seiner Seite… Und auch Gandalf und nicht zuletzt Aragorn!
‑Aragorn! Pah!
‑Er ist wirklich ein guter Feldherr, was ich so gehört habe!
‑Und Ihr meint, das reicht aus.
‑Ja.
‑Und Ihr werdet also heute aufbrechen und nach Minas Tirith zurückkehren!
‑Jawohl, das werde ich!

Noch einige letzte Details mussten besprochen werden. Nach seinem Gespräch mit Eowyn fühlte er sich beschwingt, richtig fröhlich. Er begab sich zu Aragorn und Eomer, die immer noch am nämliches Platz standen. Gandalf und Theoden standen auch dabei und sie waren immer noch am debattieren. Über wichtige Dinge, wie es schien.
‑Dann ist es also beschlossene Sache, dass Eowyn mein Volk in meiner Abwesenheit leiten soll! stellte Theoden gerade fest.
Hatte er richtig gehört?
‑Eowyn? platzte es aus ihm heraus. ‑Ihr wollt EOWYN den Befehl über Euer Volk überlassen?
‑Gewiss, warum nicht? Nicht umsonst nennt man sie Schildjungfrau und sie weiß mit einem Schwert umzugehen, und das besser noch als mancher Mann! Und ihr Volk hat Vertrauen zum Hause Eorls und sie ist dessen letzte!
Gewiss, der König hatte sicher recht, in allem, was er sprach, aber dies war eine sehr anspruchsvolle Aufgabe und Eowyn mochte dem gewachsen sein oder nicht  irgendwie störte es Boromir, zu wissen, dass sie eine solche Aufgabe übernehmen sollte. Es war nicht die Aufgabe einer Frau, zu kämpfen oder Truppen zu leiten. Das hatte er sich schon bei Galadriel gedacht. Eine Frau sollte behütet und beschützt werden und es nicht nötig haben, sich mit der harten, grausamen, lebensbedrohlichen Realität auseinanderzusetzten. Gut, jetzt hatten sich die Zeiten geändert, es herrschte Krieg und viele Frauen mussten Dienste verrichten, für die eigentlich die Männer zuständig waren. Aber man sollte doch meinen, dass eine quasi adoptierte Königstocher das nicht nötig hatte.
Nun gut, aber König Theoden hatte das Sagen und er wollte ihm da nicht hineinreden.
Dennoch verfolgten ihn derartige Gedanken den gesamten Weg mach Helms Klamm.

Eowyn blickte über das Hargtal hinweg. Seltsam fühlte sie sich. Und das lag nicht nur an der Eigentümlichkeit der Gegend.
‑Hohe Frau? Die alte Umma stand neben ihr. Nie um einen guten oder schlechten Rat verlegen und immer dann zur Stelle, wenn man allein sein wollte.
‑Ja, Umma? Ignorieren hatte keinen Zweck. Eowyn war die Stellvertreterin des Königs und musste alle Untertanen lieben und respektieren, auch die alte Umma, auch, wenn es schwer fiel.
‑Jener Recke gefällt Euch wohl! Und sie musste sich überall einmischen.
‑Verzeiht mir, wenn ich vorlaut erscheinen mag, aber er ist wirklich ein feiner Mann.
Eowyn antwortete nicht. Oh, Umma, kannst du nicht einfach ruhig sein.
‑Jaja, König wird er mal werden!
‑Umma!
‑Ich sag doch nur, was wahr ist!
‑Nein, Umma, er wird kein König werden!
‑Nicht? Aber das hat er doch erzählt, jener Boromir.
‑Nun, er hat sich eben geirrt.
‑Aber auch Gandalf ließ solches verlauten!
‑Gandalf? Was? Das Boromir König wird?
‑Wer redet denn von Boromir? Ich rede von diesem Aragorn!
‑Was? Was hab ich mit diesem Aragorn zu schaffen?
‑Aber… so, wie Ihr ihn immer beobachtet… Verzeiht einer armen Frau, aber mir ist sowas schon immer aufgefallen, schon, als Ihr garnochnicht geboren ward. Oh, ja, dieser Aragorn … König wird er mal werden, und zwar ein Guter. Ein viel besserer als dieser Boromir!
‑Das glaube ich nicht! Boromir … Er ist viel besser, viel offener, nicht so weltfremd. Aragorn …
‑Aragorn birgt eine große Macht in sich. Einer der alten Könige ist in ihm wiedergekehrt. Und er wird eine Königin brauchen.
‑Laut Boromir hat er die schon längst gefunden!
‑Ach, pah! Was will der denn mit dieser komischen Elbenschnepfe? Ein menschlicher König braucht eine richtige Frau und nicht so eine nachgemachte!
‑Umma, sei mir nicht böse, aber ich will nicht mit dir über diese Dinge reden!
‑Oh! Umma sah nicht sehr freundlich drein, nein, gar nicht freundlich. Aber wenigstens verschwand sie endlich.
Alle redeten von diesem blöden Aragorn, und was er doch für ein toller Mensch war. Sollte sie ihn doch heiraten, wenn er so toll war! Gewiss, er sah nicht schlecht aus… Und dass er mal ein Bad gebraucht hätte, störte sie auch nicht… Aber gewiss würde Boromir einen viel besseren König abgeben! Überhaupt, Boromir … Gut, sie musste zugeben, sie hatte ihn einige Zeit vergessen gehabt. Es war aber auch so wahnsinnig viel passiert! Und Grima … Noch immer fühlte sie eine kalte Hand nach ihrem Herz greifen bei dem Gedanken an Grima. Und in Boromir hatte sie den ersehnten Befreier gesehen…
Und dann war alle Hoffnung erloschen, er war fort und schien nicht wieder kommen zu wollen… Und dann, als alle Hoffnung entgültig geschwunden war, erschien er wieder, der Mann, der ihr Herz schon längst erobert hatte und sie hoffte auf das Glück an seiner Seite als Königin von Gondor  mit weniger wollte sie sich nicht zufrieden geben – und dann kam jener ungewaschene, ernste, schweigsame Kerl und nahm Boromir einfach den Königsthron weg. Oh, wie wütend war sie gewesen, als sie das erste Mal davon gehört hatte. Und Boromir kämpfte noch nicht einmal, oh nein, er fand ihn auch noch toll, diesen dahergelaufenen Hinterwäldler!
‑Ach Boromir! seufzte sie leise und ihr schien es, als würde auch der Wind seufzen: ‑Ach, Boromir.
Aber nun mussten die Männer erst einmal die nächste Schlacht überleben. Vielleicht würde ja der eine oder andere sterben…
Sie war sich durchaus des Frevels ihrer Gedanken bewusst. Aber wer würde je davon erfahren?

Boromir fluchte in sich hinein. Wieder war er wo ganz anders als da, wo er eigentlich hinmusste. Jetzt nahmen sie Kurs auf diese sogenannte Helm’s Klamm und er war mit dabei. Wieso nur, warum, um Mordors willen? Sein Platz war doch bei seinem Volk. Aber es hatte nur eines Paares blauer Augen bedurft, die ihn umstimmten…. Und eines weißen Zauberers und des zukünftigen Königs von Gondor.
‑Boromir  die Straßen und die Zeiten sind zu unsicher! Du hast das selbst gesagt! Du kannst nicht allein reisen! hatte Aragorn ausgerufen. Aragorn. Und Gandalf hatte gemeint:
‑Aragorn hat recht, Boromir. Du hilfst deinen Bundesgenossen von Rohan, und sie werden danach Gondor helfen. Das ist nur gerecht. Und ich glaube, dass dein Bruder seine Sache gut macht in Minas Tirith. Du solltest nicht an ihm zweifeln!
Und Eomer hatte gesagt: ‑Reite mit uns, Boromir! Wir alle zusammen  wer will uns da aufhalten?
Und wenn Rohan frei ist von Sarumans Übel  dann müssen wir keinen Zweifrontenkrieg mehr führen und alles wird wieder gut.
Alles wird wieder gut. Ja, sie hatten alle gut reden. Und er, Boromir… Nun, vielleicht war Faramir wirklich nicht so schlecht…. Und der Krieg hatte ja noch garnicht richtig begonnen… Vielleicht war er seiner Aufgabe bisher wirklich noch gewachsen. Der gute Faramir… Eigentlich zu gut für diese Welt. Immer tapfer, gewiss… aber auch immer ein wenig verträumt und eher mit einem Buch als mit einem Schwert anzutreffen. Aber Bücher würden nicht viel nützen.

5. Helms Klamm

Helms Klamm! Nun, was hatte er erwartet? Gewiss nicht das. Eine kleine Festung vielleicht, schwach befestigt… ein paar Mauern und eine niedriger Wall.
Nun, er musste sagen, er war beeindruckt! Gute Baumeister mussten sie gehabt haben, die Reiter von Rohan, vor langer Zeit! Und viele billige Arbeitskräfte! Nachdenklich befühlte er ein Stück Mauerwerk. Hm, ja, alles in allem nicht schlecht. Kein Vergleich zu Minas Tirith, natürlich… Aber alles in allem…
‑Na, bist du zufrieden? Aragorn und Eomer grinsten ihn an. Und sie hatten ja recht.
‑Also ich glaube nicht, dass es ein Orkpfeil durch dieses Mauerwerk schafft! grinste Boromir und die andern lachten. Bei drei Meter dicken Wällen war es wirklich etwas unwahrscheinlich!
Aber trotz dem dicken Mauerwerk  Ruhe wollte sich bei Boromir nicht einstelen. Nicht nur das Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein… Es lag ein dunkler Schatten über diesem Ort, ein Unheil, welches man vielleicht nur ahnen konnte, das aber dennoch fast körperlich zu spüren war. Und nur allzubald wusste er, was es damit aufsich hatte.
Orks, Orkse Orks, nichts als Orks waren zu sehen. Oder Uruk-hai, wie sie formell hießen.
Urukai, Urukai, Urukai. Das genügte schon, um hartgesottenen Männern Furcht einzuflößen. Auch Boromir fühlte sich nicht so recht wohl, als er all die schwarzen Gestalten brüllen hörte. Einen Kampf würde es geben, darin bestand kein Zweifel mehr. Und er würde daran teilnehmen. Viele würden den Tod finden, vielleicht auch er… Fern seiner Heimat, im Kampf gegen dieselben Feinde allerdings. Es mochte schlimmeres geben.
Schon kam der erste Pfeil geflogen…

Die nachfolgenden Minuten und Stunden dachte Boromir nicht mehr viel. Sie bestanden aus Arm heben, Arm senken, wie in Trance auf schwarze Gestalten einhauen, ein paar Schritte nach vorn zu machen, ein paar nach hinten… Eins zu sein mit seiner Waffe. Irgendwann fiel ihm auf, dass er neben Aragorn kämpfte, der mit mächtigen Schwerthieben einen Ork nach dem anderen fällte…
Und er glaubte Eowyns Stimme vernehmen zu können, wie sie sagte: ‑Noch ist Euer Thron nicht verloren, Boromir. Wenn Aragorn stirbt…
Der nächste Ork fiel und der nächste… Eine Bewegung schräg hinter ihm. Er fuhr herum, stieß dabei hart mit jemandem zusammen… der nächste Ork lag am Boden, doch er war nicht der einzige, der lag. Dort lag auch Aragorn, der ein wenig benommen in der Gegend herumschaute, sein Schwert schien er verloren zu haben… Und da stand plötzlich ein riesenhafter Ork mit gemeinem Grinsen und er hob sein Schwert… Und Boromir holte weit aus mit seinem Schwert und setzte einen saubern hieb, Orkkopf und ein Orkblut flogen durch die Luft… Und da war der nächste Ork, der getötet werden wollte.
Eomer war auch bei ihm, irgendwann, nach Stunden oder Tagen, so schien es… Und er hörte jemanden rufen: ‑Zurück, zieht euch zurück… Und er gehorchte und war plötzlich in der Hornburg und es war das erste Mal, dass er wieder halbwegs klar dachte und das nicht seine Kampfinstinkte das für ihn erledigten. Da war auch Aragorn und er kam auf ihn zu…
‑Danke, Boromir. Ich verdanke dir heute mein Leben! sprach er und schwer ruhte seine Hand auf Boromirs Schulter…
Stimmt, da war was. Verschwommen erinnerte er sich noch daran, Aragorn am Boden, nachdem er ihn umgeworfen hatte oder so…
Und Eowyns Stimme von fern….
Aber es gab noch genug anderes zu tun. Es musste noch ein Ausfall gewagt werden, die Türen mussten verbarrikadiert werden…
Und schließlich kam Eomer und meinte: ‑Boromir, wir werden am Morgen hinausreiten.
Hinausreiten. Ja, das war gut. Besser, als in dieser Burg eingekesselt zu sein und das Gefühl zu haben, dass alle Hofnung schwand… Vielleicht würde ein gnädiger Pfeil von irgendwoher vorbeischwirren und ihn hinabreißen von seinem Pferd in die Umarmung des Todes…
Also, aufgesessen!
Vorne waren König Theoden und Aragorn, dahinter waren er und Eomer… Sie tauschten Blicke aus, Blicke von Männern, die wußten: Dies konnten die letzten Augenblicke ihres Lebens sein. Und da  ein gewaltiges Dröhnen übertönte den Schlachtenlärm, ein so gewaltiges Dröhnen, dass er für kurze Zeit versucht war, sich die Ohren zuzuhalten…
Eomer lachte neben ihm und seine Lippen formten Worte, ohne dass er sie hören konnte… Täuschte er sich, oder meinte Eomer: ‑Helms Horn? War es das, was da so einen Krach machte?
Doch für weitere Gedanken blieb keine Zeit, die Tore waren geöffnet und es ging hinaus.
Hinaus!
Noch immer ein Wald von Speeren und Lanzen und Schwerten, schwarze, stinkende Orks überall. Aber es hieß ja hinaus!
Kaum jemand stellte sie ihnen in den Weg, und wer es tat, wurde rücksichtslos niedergetrampelt.
Sonnenlicht, das erste des Tages, kroch über die umliegenden Hügel und tauchte alles in in herrliches rot  gold… Und sein Schwert mähte reihenweise Orks nieder, ein großer Schlachttag war es. Plötzlich hörte er Eomer wieder rufen: ‑Der weiße Reiter!
Und oben erschien tatsächlich eine weiße Gestalt, eine blendend weiße Gestalt, und es war viel Geschrei zu hören, Jubelgeschrei der Rohirrim und Schreckensschreie der Orks.
Die Schlacht war quasi gewonnen.

Theoden sah ihn an und seine Augen glühten und er wirkte soviel jünger als damals, als er ihn nach der langen Reise wiedergesehenhatte… war es wirklich erst drei Tage her? Lange hatte er gekämpft, so schien es ihm. Und er schien die ganze  Zeit geschlafwandelt zu haben.
Theoden richtete das Wort an ihn.
‑Edler Boromir  manche meiner Männer haben gesagt, dass die Menschen von Gondor um Hilfe ersuchen, aber nie selberhelfen. Nun, ab heute sollen sie das nicht mehr sagen. Denn Euer Beitrag zu dieser Schlacht war sicher nicht geringer, als ihn ein ganzes Heer von Gondor hätte leisten können. Wir, die Rohirrim, stehen tief in Eurer Schuld.
Mit denselben Worten hatte Theoden vorher sicher auch schon Aragorn gelobt. Aber vielleicht zählte momentan aus Gewohnheit der Sohn des Statthalters noch mehr als Isildurs Erbe.
Aragorn stand ganz in der nhe und lächelte bei den Worten Theodens. Er stimmte in die Hochrufe mit ein, die Boromir hochleben ließen.
Boromir dankte allen und lächelte und fühlte sich noch immer wie einen Schlafwandler. Aragorn trat auf ihn zu.
‑Die Menschen von Rohan lieben dich, Boromir. Und in der Tat  was du heute in dieser Schlacht geleistet hast, ist mehr wert, als in einem einzigen Lied besungen werden kann.
Aha. Was hatte er nochmal getan? Er hatte Orks getötet, viele Orks…
‑Du hast mir das Leben gerettet. Und nicht nur mir! Auch Eomer und Theoden…
Hatte er? Möglich war alles.
‑Und du hast einen unglaublichen Einsatz geleistet, immer an vorderster Front…
‑Es war Wahnsinn, wie du selbst nach den Balken gerufen hast und mit ihnen selber die Tore verstopft hast! rief Eomer aus.
Ja, natürlich! Das gehörte sich schließlich auch für einen guten Feldherrn, oder nicht?
Er konnte sich garnicht mehr so genau erinnern… Oder doch… All die stinkenden Orks, die von ihm nur durch eine etwa eine Handspanne dicke Tür getrennt waren… Und er hatte die Pflöcke genommen und den Eingang versperrt und durch die Ritzen hatten immer wieder Orklanzen und Orkspeere nach ihm gestochert… Und einer hatte ihn an der Hand erwischt. Wo kam eigentlich der Verband her?
Und diese schrecklichen Kopfschmerzen. Sie fielen ihm jetzt zum ersten mal auf. Nachdenklich fuhr er sich über das Haar. Auch dort war ein Verband. Seltsam. Wieso erinnerte er sich nicht daran? Wenn nur die verdammten Kopfschmerzen nicht wären…
Und er fühlte sich erschöpft, so völlig erschöpft und am Ende…
‑Boromir! Eine Stimme rief seinen Namen, fern von seinem Ohr… Hände ergriffen ihn und stützten ihn… und dann war alles schwarz.

‑Was ist passiert? Er kniff die Augen zusammen und versuchte den Mann zu erkennen, der da vor ihm stand.
‑Ihr seid in der Schlacht verwundet worden! verkündete die Gestalt.
Ach ja, die Schlacht…
‑Ihr habt einen Schlag auf den Kopf bekommen! fuhr die fremde Stimme fort.
Einen Schlag auf den Kopf… Möglich. Das würde die Kopfschmerzen erklären.
‑Ich halte es für das beste, wenn Ihr einige Tage im Bett bleibt.
Da war er dagegen.
‑So krank fühle ich mich nicht! fuhr Boromir auf.
‑Ihr werdet Euch aber krank fühlen, wenn Ihr erst aufgestanden seid! Und schreckliche Kopfschmerzen werden Euch plagen!
‑Das glaube ich nicht. Ich bin zäh. Wo ist Eomer?
‑Eomer? Der ist mit dem König und Aragorn und dem weißen Reiter nach Isengard geritten.
‑Nach Isengard. Und wo bin ich hier?
‑Noch immer in Helms Klamm!
‑Und wann kann ich aufbrechen?

Es war unglaublich, wieviel Zeit er verloren hatte! Endlich ging es wieder weiter, zu diesem komischen Hargtal, wo er auch offenbar Aragorn und noch ein paar andere wiedersehen würde… und dann würden sie alle zusammen, das Heer und Boromir und Theoden und Gandalf endlich nach Minas Tirith reiten. Oder was noch davon übrig war.
Natürlich dauerte das alles viel zu lange.
Er wollte sich keinen Illusionen hingeben. Schon bei seiner Aufbruch damals nach Bruchtal hatten sie jeden Moment mit einem Angriff gerechnet, der alles plattmachen würde… Und jetzt, wo der älteste Sohn des Truchsess nicht da war… Ach ja, sein Vater, und Faramir…
Und Eowyn… Sie würde er zuerst von allen erblicken, die ihm lieb und teuer waren. Eowyn… Sie würde auch im Hargtal zu finden sein, hatte man ihm erzählt. Endlich würde er wieder in ihre blauen Augen blicken können… und dann? Ritt er in ein äußerst ungewises Schicksal. Zum Glück war Eowyn in diesem Hargtal wohl noch am sichersten, nachdem Isengard und Saruman endlich vernichtet waren.
Diese verdammten Kopfschmerzen… Aber er würde das in den Griff bekommen. Kein Problem.
Seine Begleiter blieben stehen. Insgesamt zählte der Trupp wohl an die zweihundert Mann, leicht verwundete bei der Schlacht von Helms Klamm, allesamt, die jetzt trotz leichterer und schwererer Blessuren dem Ruf ihres Königs gefolgt waren, um Minas Tirith beizustehen.
Sie waren stehengeblieben und sahen… Vor sich das Hargtal.Vor ihnen wuselte es vor kleinen schwarzen Gestalten, Zelte standen da, von ihrem Ausblick aussehend wie Spielzeug… Aber ach, Boromir schätzte die Zahl auf etwa 2000. 2000 Krieger, um Minas Tirith beizustehen. Gegen das zwanzig bis hundertfache an Feinden. Boromir gab sich keinerlei Illusionen hin. Sie hatten keine Chance. Und überhaupt, es war viel zu spät. Vielleicht kämen sie noch rechtzeitig, um die Feinde vom Leichenfledeern abzuhalten… Und sie würden untergehen, kämpfend sterben wenigstens…
Die Pferde setzten sich wieder in Bewegung, sie ritten auf den Ameisenhaufen zu.
Lamgsam konnte man einzelne Gestalten voneinander unterscheiden, da kam jemand auf sie zugeritten…
‑Eomer! rief boromir erfreut aus.
‑Boromir! Wie geht es dir? Ich hoffe, deine Verletzungen sind nicht zu schlimm und du bist wieder halbwegs bei Kräften?
‑Es geht schon. Nicht unbedingt taufrisch, aber es reicht, um noch ein paar Orks zu töten.
‑Na, das ist doch die Hauptsache!

6. Dunharg

Man lud ihn ein ins Hauptquartier, wo bereits Theoden und Eowyn warteten. Sie schenkte ihm ein strahlendes lächeln! Boromirs Herz hüpfte. Wunderschön…
Er freute sich über alle Maßen. Eowyn war froh über seinen Anblick!Aber schließlich wandte er die Augen ab von ihrer strahlenden Schönheit und blickte sich um. Alle namhaften Gestalten waren schon da, aber er vermisste drei Stück.
‑Wo sind Gandalf, Aragorn, Gimli und Legolas? fragte er erstaunt.
Ein Schatten erschien auf dem Gesicht von Theoden.
‑Sie sind fort. Gandalf ritt schon früh am ersten Tage, um in Minas Tirith Kunde zu bringen!
Boromir atmete tief durch. ‑Gut! sagte er und meinte es auch so. ‑Nur fürchte ich, dass mein Vater nicht begeistert sein wird, setzte er hinzu. ‑Er schätzt Gandalf nicht besonders. Und die anderen sind mit ihm geritten?
‑Nein! sagte Theoden und wieder sah er so grimmig und ernst drein.
‑Sie sind zum schwarzen Stein von Erech geritten.
‑Zum schwarzen Stein, stellte Boromir fest.
‑Zum schwarzen Stein, antwortete Theoden.
‑Und was ist der schwarze Stein? fragte Boromir.
Theoden hub zu einer Erklärung an, doch plötzlich erblickte Boromir eine kleine Gestalt am Zelteingang…
‑Merry! rief er überrascht und erfreut aus. Und als nächstes:
‑Ich hab dich viel kleiner in Erinnerung. Bist du gewachsen?

Boromir sah hinunter. Morgen früh würden sie schon aufbrechen. Und so wenig Reiter würden kommen. Es war nach wie vor eine Katastrophe.
Keine Rettung, keine, keine.
Jemand trat auf ihn zu. Eowyn. Sie lächelte ihn an. Und er lächelte zurück. Ihr Anblick raubte ihm wieder den Atem, wie immer fehlten ihm die Worte, um sie zu beschreiben… Außer wunderschön wollte ihm nichts rechtes einfallen. Sie lächelte ein wenig.
‑Wunderschön? fragte sie
Hatte er laut gedacht?
‑Nun ist es soweit! meinte Eowyn. ‑Morgen werdet Ihr dann aufbrechen in die Stadt Eurer Väter, und am Ende des Krieges werdet Ihr König sein!
‑Wenn dann noch etwas übrig ist und ich noch lebe! seufzte Boromir. Dann fiel ihm auf, was Eowyn gesagt hatte.
‑Aber König werde nicht ich sein, sondern Aragorn.
‑Wenn er überlebt, stellte Eowyn fest.
‑Wenn er überlebt, seufzte Boromir.
‑Aber das wird er nicht! fuhr Eowyn fort.
‑Was? Boromir sah sie erstaunt an… und auch etwas misstrauisch. Sie schien so wahnsinnig auf Aragorns Tod zu hoffen… Sie wollte doch nicht etwa nachhelfen?
‑Er reitet gerade in den Tod. bekräftigte sie ihre Behauptung.
‑Ich dachte, sie reitet zum schwarzen Stein, was immer das auch ist! Boromir war ein wenig verwirrt.
‑Und genau das bedeutet den Tod! Eowyns Stimme klang fest und hart. ‑Und er hat es auch nicht anders verdient. Schleicht sich einfach davon, vor der größten Schlacht seines Lebens. Er hat wohl Angst bekommen und sucht sich jetzt einen einfacheren Weg zu sterben.
‑Ich glaube nicht, dass Aragorn die Schlacht scheut. Er wird sicher einen Grund haben, dorthin zu reiten.
‑Er ist ein Narr! Bisher ist noch niemand von den Pfaden der Toten zurückgekehrt!
‑Den Pfaden der Toten?
‑Ja… Es heißt, dass in den Bergen hinter dem hargtal Tote hausen, Geister, die jeden töten, der sich auf ihre Pfade begibt. Und Aragorn ist wohl der Meinung, dass ihm das nicht passieren kann!
‑Vielleicht hat er recht…? wagte Boromir zu bemerken.
‑Ach, was soll dieser Mann haben, was andere Männer nicht haben? Er ist ganz gewiss nicht der kühnste Mann, der versucht hat, die Pfade der Toten zu betreten! Nein, er ist dem Tode verfallen, das ist gewiss!
Boromir sah weiter in die tiefe. So viele Feuer, so schien es, und so vieleMänner, aber nicht genug, niemals genug.
‑Ihr denkt an Morgen! stellte Eowyn fest.
‑An Morgen. Und an die Schlacht, die noch kommen wird! seufzte Boromir. Dann drehte er sich um und sah Eowyn tief in die Augen.
‑Der einzige Trost, der mich aufrecht erhält, ist, dass Ihr hier in Sicherheit seid. Dass Ihr wahrscheinlich am sichersten Ort in Mittelerde seid, so wenig das auch bedeuten mag. Denn ich könnte es nicht ertragen…
Zum ersten mal fiel ihm auf, dass sie eine Rüstung anhatte und ein Schwert trug. Warum hatte er das vorher nicht bemerkt?
‑Ihr tragt ein Schwert! stellte er fest.
‑Ja! sagte Eowyn.
‑Ihr seid noch immer die Befehlshaberein über Euer Volk, wenn Theoden nicht da ist?
‑So ist es.
‑Hat er denn niemanden anders? erkundigte er sich.
Ein scharfer Blick von ihrer Seite.
‑Was soll das heißen? erkundigte sie sich scharf wie eine Schwertklinge.
‑Nun… Meiner Meinung nach sollte eine Frau kein Schwert tragen. Sie sollte sich mit solchen Dingen nicht belasten. Überhaupt scheint mir eine Frau absolut ungeeignet für den Krieg zu sein. Irgendwie hatte er das Gefühl, etwas falsches gesagt zu haben. Ihr Gesicht war völlig versteinert.
‑Also sollte eine Frau daheim bleiben, für die Kinder sorgen und auf die Männer warten, die Ruhm und Ehre in der Schlacht gewinnen! stellte Eowyn fest.
‑Ja! sagte Boromir. Genau so meinte er es.
‑Weil eine Frau nicht kämpfen kann.
‑So würde ich as jetzt nicht unbedingt sehen. Ich denke schon, dass eine Frau kämpfen könnte… Aber es ist ihrer nicht würdig.
‑Also kämpfen nur im Fall, um Haus und Gut und Kinder zu verteidigen, wenn die Männer nicht mehr sind.
‑Ja!
Sie wandte sich ab und rauschte davon. Irgendwie hatte er wohl wirklich etwas Falsches gesagt! Wenn er nur wüßte, was! Daran waren sicher wieder die verdammten Kopfschmerzen schuld!

Eowyn war so wütend wie in ihrem ganzen Leben nicht. Boromir. Denethors Sohn. Den sie für einen ausgesprochen tollen, netten, vernünftigen Menschen ghalten hatte. Eine Frau sollte nicht kämpfen! Für eine Frau schickt sich werder Ruhm noch Ehre! Bah! Dem würde sie es zeigen!
‑Ihr seid wütend, Herrin! erklang eine Stimme. Umma. Die alte Umma. Ignorieren war wohl das beste.
‑Ihr macht Euch bereit, morgen in den Kampf zu ziehen! Eowyn hielt inne, drehte sich um. Die alte Umma sah sie nachdenklich an.
‑Ihr seid jung, Eowyn. Was wisst Ihr schon vom kämpfen! Nach Ruhm und Ehre strebt Ihr!
‑Und? Ist das schlecht? Weil ich eine Frau bin?
‑Ruhm und ehre! Was ist ds schon? Ihr habt meinen Mann nicht gekannt, Eowyn. Meinen guten, alten Beda… er war immer tapfer, immer stark… und kam eines tages nach Hause von einer Schlacht gegen Orks… Und sagte zu mir:
Umma, sagte er, vergiss die Wörter Ehre, Ruhm. Sie sind schlecht, sie existieren nicht! Nicht gegen Orks!
Und dann zeigte er mir den Armstumpf, den er noch hatte. Nein, edle Frau, auch in diesem Kampf, der vor den Männern liegt, ist keine Ehre. Nur ein Gefühl des Abscheus und des Ekels wird zurückbleiben. Vielleicht werdet Ihr diese gefühle mit der Zeit vergessen… Aber in Euren Träumen werdet Ihr immer daran erinnert werden.
‑Also ist es besser, daheim zu bleiben und dieHände in den Schoß zu legen! sagte Eowyn bitter.
‑Das habe ich nicht gesagt. Ihr müsst euch überlegen: Was kann ich für mein Volk tun? Denkt nicht an Euch selber und an Worte wie Ehre und Ruhm. Denkt an Euer Volk!
‑Ich denke an mein Volk! Und was ist das beste für mein Volk? Das ich hier sitze und es regiere!
‑Pah! Jeder räudige Hund könnte dieses Loch hier verteidigen! Und sollte Durnharg wirklich angegriffen werden, ist das Heer der Männer eh gefallen und es gibt keine Rettung mehr!
‑Was soll ich dann deiner Meinung nach tun?
‑Was das Beste für das Volk ist.
‑Und was ist das beste?
‑Was könnt Ihr am besten, Eowyn? Suppe kochen? Nähen? Sticken? Wollt Ihr nicht Eure Fähigkeiten, das was Ihr am besten könnt, Eurem Volk zum Geschenk machen? Ich muss jetzt gehen, edle Frau, ich bin müde. Verzeiht mir meine albernen Worte.
Und die alte Umma hinkte wieder hinaus.
Eowyn stand noch lange in ihrem Zelt und starrte vor sich hin.

Am nächsten Morgen brachen sie auf. So viele Pferde, so viele Reiter, wohin das Auge auch blickte… So schien es. Aber dennoch viel zu wenige.
‑Leb wohl, Merry! sagte er zu dem Hobbit, der am Rande des Getümmels stand und fast ein wenig unglücklich aussah. ‑Nur kurz haben wir uns wiedergesehen. Aber du wirst sicher bald nachkommen nach Minas Tirith, und dann zeige ich dir meine Stadt… wenn es denn ein Wiedersehen geben wird.Aber sag mal, Merry  hast du Eowyn irgendwo gesehen?
‑Nein, Boromir. Auch Theoden hat mich vorhin gefragt. Sie scheint verschwunden zu sin! Leb wohl!
‑Leb wohl!
Komisch, dass Eowyn nicht erschienen war. Wirklich seltsam. Vermutlich hatte er sie gestern Abend wirklich beleidigt. Aber warum nur?

Es war eine seltsame Reise. Ein langer Ritt, vielleicht der letzte. Die Stimmung war bedrückend.
Wie es wohl seinem vater gehen mochte? Ob Osgiliath schon gefallen war? Sicher war es das. Es hatte nie große hoffnung gegeben, die Stadt bei einem ernsthaften Angriff halten zu können. Sie hatten es wieder in Besitz genommen, das schon… Und auch Cair Andros hatten sie gehalten.
Aber wenn der Feind sein Heer wirklich ausrücken ließ…
Wieviel anders beurteilte er viele Dinge jetzt! An viele Sachen, die vor einer Woche noch so wichtig erschienen waren, dachte er kaum noch… Zum Beispiel an den Ringträger. Frodo hatte er über Helms Klamm völlig vergessen.
‑Hofentlich geht es ihm gut, wo immer er ist. Und hoffentlich kann er es ausführen, dachte er.
Begehrte er den Ring noch immer? Er konnte es nicht sagen. Wenn der Ring vor ihm läge, würde er ihn sicher nehmen. Er könnte dem sicher icht wiederstehen. Aber jetzt… War alles so weit weg… Seit Helms Klamm lag etwas wie leichter Nebel vor seinen Sinnen. Vielleicht hatte er wirklich Bettruhe nötig, wie die Heiler gesagt hatten… Aber was waren Kopfschmerzen gegen die zerstörung seiner Stadt?
Die Stunden zu Pferde krochen dahin, reiten, reiten, reiten, absteigen, essen, schlafen, reiten…
‑Boromir! Was hast du? Bist du doch schwerer verletzt, als wir angenommen haben? Eomer war wie immer rührend besorgt um ihn.
‑Nein, es geht schon. Mach dir keine Sorgen. Ich denke nur an meine Heimat.
‑Ich hatte gerade aber beinah den Eindruck, dass du vorhattest, aus dem Sattel zu fallen!
Merkte man das so deulich?
‑Es geht schon, Eomer. Danke. Ein weiterer besorgter Blick von Eomer, aber wenigstens sagte er nichts mehr. Er hatte dieselben blauen Augen wie Eowyn. Gut, sie war auch seine Schwester.
Ach, Eowyn… Würde er sie jemals wiedersehen?
‑Wer ist eigentlich dieser kleine Kerl da vorne? Und was ist das für ein Wald? Fangorn? erkundigte er sich plötzlich bei Eomer. Nur, um was zu sagen.
Ein völlig ungläubiger Blick seines Freundes traf ihn.
‑Boromir  ich wünschte, ich hätte dich in Dunharg gelassen! sagte Eomer, trieb sein Pferd an und ritt nach vorne.

7. Die Schlacht auf dem Pelennor

Und dann sah er sie. Minas Tirith. Die weiße Stadt. Und davor… Eine schwarze, wabernde Masse.
Jeder kleine schwarze Punkt war ein Feind. Dass es so viele Orks auf der Welt gab… und dass die alle Minas Tirith angreifen wollten… Seltsam, das ganze. Wollten die nicht vielleicht auch lieber woanders sein, so wie er, sich hinlegen, schlafen, nie mehr aufwachen?
Es schien ihm alles so weit weg zu sein, die weiße Stadt….
Aus weiter Entfernung drang Lärm an sein Ohr, Geschrei aus Hunderten, Tausenden von Kehlen? Aber es war alles so weit weg.
„Boromir!“
Eomers Gesicht war ganz nah vor seinem, sein Freund brüllte irgendetwas ihm zu, aber er verstand ihn nicht. Da war ein seltsames Summen, in seinen Ohren, und sein Kopf schmerzte so…
Eomer sah sehr seltsam drein, als habe er Angst… Ein Horn brüllte plötzlich auf in seiner Nähe, ein anderes folgte, dicht neben ihm, so schien es.
Boromir legte die Hände auf seine Ohren und schloss die Augen.
„Mach, dass es aufhört! Bitte!“ dachte er. Wellen des Schmerzes marterten seinen Kopf, Schmerzen, wie er sie nie zuvor verspürt hatte.
Langsam ebbten Lärm und Schmerz ab. Boromir öffnete wieder die Augen.
Eomer sah ihn noch immer so voller Angst an… Der große, starke, furchtlose Eomer…
Jaja, eine Schlacht brachte den wahren Mut der Menschen zum Vorschein.
Mittlerweile war Ruhe eingekehrt.  Totenstill war es, alle Zeit schien stehengeblieben zu sein, nichts rührte sich mehr. Absolute Stille…
Doch nur für einen Moment.
Hörnerschall brandete wieder auf, von allen Seiten, mit dem einzigen Ziel vermutlich, ihn taub zu machen und seinen Kopf zum Platzen zu bringen. So laut! So schrecklich laut! Und solche Kopfschmerzen!
Sein Blick fiel auf Theoden, der irgend etwas brüllte… Aber kein Ton schien über seine Lippen zu kommen. Die Rohirrim brüllten etwas zurück… Aber auch von ihnen hörte er keinen Laut, der Hörnerschall füllte noch immer alles aus…
Sein Blick fiel auf die Hornbläser.
Sie hatten aufgehört zu blasen! Nanu!
Der Hörnerlärm füllte doch noch immer seine Ohren!
Das war sehr interessant. Das würde er irgend wann einmal untersuchen müssen, beschloss er. Vielleicht wurden irgendwie die Stimmen der Rohirrim in Hörnerschallwellen umgewandelt… Eine Mutation oder eine besondere Fähigkeit, vielleicht vererbbar…
Plötzlich setzte sein Pferd sich so abrupt in Bewegung, das er beinahe aus dem Sattel gefallen wäre. Krampfhaft klammerte er sich fest.
„Ein Fluch diesem blöden Pferd, das einfach losgeht, ohne zu fragen!“ dachte er… und dann fielihm auf, dass alle Pferde in Bewegung waren und all die Rohirrim den Mund geöffnet hatten wie zum Schrei… und statt ihrer Stimmen erklangen noch mehr Hörner.
Womit seine Theorie bestätigt war.
Sie ritten und ritten, auf die weiße Stadt zu, die immer näher kam. Dort war Theoden und Eomer an seiner Seite und viele, viele Rohirrim… Warum noch mal schnell kämpfte er auf dieser Seite und nicht auf der Seite der weißen Stadt? Warum noch mal schnell griff er seine Heimatstadt an?
Doch dann war keine Zeit mehr für solche Überlegungen, denn plötzlich war da eine komische, dunkle Gestalt an seiner Seite, die ausholte und wohl seinen Kopf abschlagen wollte….
Doch ein anderes Schwert blitze auf zwischen ihnen und ein schwarzer Kopf verabschiedete sich von seinem Hals und verschwand in einem Gewühl aus schwarzen Leibern.
Eomer stand vor ihm und gestikuliert wild. Seine Lippen bewegten sich und auch aus seinem Mund drang Hörnerschall… das war ihm bisher bei seinem Freund noch nicht aufgefallen.
Was wollte Eomer blos? Er machte so komische Bewegungen… Das Schwert ziehen? Ach, ja, das Schwert ziehen. Boromir zog sein Schwert, wobei er beinahe seinen Freund geköpft hätte… Der brüllte wieder irgendetwas und verschwand aus seinem Blickfeld. Stattdessen stand da plötzlich noch so ein schwarzer Kerl vor ihm… Mit entstellten Gesichtszügen, ein Auge fehlte, aus der blicklosen Augenhöhle troff Eiter…
„In den Häusern der Heilung hätte man dir helfen können!“ erklärte Boromir ruhig. Der andere hob als Antwort sein Schwert, auch Boromir hob seines… und wieder flog ein schwarzer Kopf durch die Luft und davon.
Das war ein lustiges Spiel. Für Nachschub war stets gesorgt. Arm heben, Arm senken, ein Kopf flog davon.
Völlig automatisch, er hatte das Gefühl, neben sich zu stehen und sich zuzusehen. Es war aber auch so einfach…
Seine Gedanken schweiften ab und wurden ein wenig klarer.
Diese verdammten Kopfschmerzen. Würde das denn niemals aufhören? Was wohl Eowyn jetzt machte?
Arm heben, Arm senken… Wieder flog ein Kopf…
Vielleicht würde sie sie sich freuen, wenn er wieder zurückkam… Vielleicht würde sein Vater sich freuen, wenn er Eowyn heiraten würde… Es würde ihn bestimmt freuen! Arm heben, Arm senken… Und Faramir? Ach, Faramir… sein lieber Bruder…
Arm heben, Arm senken…
Und der Ring… und Frodo… Und Gandalf und Aragorn… Aragorn, der Gute, Aragorn, der Weise,
Aragorn, der keine Kopfschmerzen hat, der sich von törrichten Dingen und Ringen nicht dazu hinreißen ließ, seine Freunde zu verraten…
Leise begann Boromir, vor sich hinzumurmeln, während er seinen Arm hob und senkte und ein weiterer Kopf flog…
„Ach, Frodo… Ach, ihr armen Hobbits… wenn ich bei jenem dämlichen See nur nicht über diese blöde Wurzel gestolpert wäre… und mich mit meinem Hosenbein so verhakt hätte… Dann hätte ich euch alle retten können und Frodo und alle… und vielleicht hättet ihr mir vergeben…“
Und plötzlich begann er zu schreien, laut zu schreien, er schrie all seine Sorgen und seinen lang genährten Kummer heraus, der ihm auf der Seele lag.
„Ich bin ein Nichts, ein schlechter Mensch, nicht würdig, König zu sein! Was starrt ihr mich so an! Hier bin ich! Kommt und tötet mich! Denn ein Bluttag ist heute! Denn sterben muss ich und sterben will ich und sterben werde ich und vielleicht gelingt es mir noch, dass noch ein paar andere  von euch stinkenden Orks sterben werden! Vielleicht hab ich dann genug gebüßt! Vielleicht denkt ihr dann alle besser von mir… Weil ich hab es nicht gewollt! Ich habe es nie gewollt, versteht ihr!
Der Ring… er hatte Macht über mich… Macht! Ich war ihm ausgeliefert… Und so will ich heute sterben! Sterben, sterben für… Frodo, Minas Tirith und Aragorn, den neuen König. Sterben für Aragorn! Hört ihr mich!“
Vor ihm aus dem Boden wuchs ein grimmig aussehender, riesiger Ork. Er hielt ein großes, zweischneidiges, blutverschmiertes Schwert in der Hand und blickte spöttisch zu Boromir hinauf.
Und sagte:
„Du willst sterben? Ich kann dir helfen!“

Eine Schlacht. Die erste ihres Lebens. Nun, wenn sie ehrlich war – sie hatte es sich schon ein wenig anders vorgestellt.
Da war nichts mit heldenhaftem Kampf Mann gegen Mann, Mensch gegen Ork. Das war ein einziges Niedergemetztel von allen Seiten. Sie hieb wild um sich, bei jedem Hieb fiel ein Ork… Sie waren aber auch dicht gedrängt, diese Orks, und auch in der Überzahl.
Und es stank entsetzlich auf dem Schlachtfeld. Der metallische Geruch des Blutes, genug, um einem schon damit jeden Mut zu rauben. Aber sie war tapfer, sie war die Schwestertochter eines Königs, und sie konnte kämpfen. Der Hobbit saß immernoch vor ihr im Sattel und hielt sich gut fest. Er hatte zu kurze Arme, um einen Ork zu erwischen. Doch wenn die Feinde in seine Reichweite gelangen würden, bedeutete das höchstwahrscheinlich ihren Tod.
Und er war so begierig darauf gewesen, zu kämpfen… Sie hatte in ihm eine verwandte Seele gesehen. Warum sollte er nicht kämpfen für die, die er liebte!
Dort vorne war Theoden. Wild und schrecklich sah er aus. Wo er erschien, flohen die Feinde. Ein großes Gefühl der Liebe stieg in ihr zu ihm auf. König Theoden, den sie liebte und achtete wie einen Vater.
Auf einmal erschien ein weißer Schein an seiner Flanke, eine blendend helle, weiße Gestalt, die irgendwelche Worte rief, die sie nicht verstehen konnte. Aber Theoden hatte sie offenbar verstanden, denn er ritt nicht mehr in die vorige Richtung, auf Minas Tirith zu, sondern begann, die Feinde auf seiner linken Seite zu attakieren.
Und da verdunkelte sich der Himmel. Etwas großes, schwarzes, schreckliches senkte sich nieder.
Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit überkam sie. Alles war vergebens. Warum war sie nur in die Schlacht gezogen? Was konnte sie schon tun? Hatte sie wirklich gedacht, durch ihre Anwesenheit könnte das Blatt sich wenden?
Plötzlich wirbelte sie durch die Luft und einen Moment lang war alles schwarz.
Noch halb benommen, fand sie sich wieder auf den Beinen stehend, das Schwert noch immer in der Hand. Ihr Pferd hatte wohl gescheut und sie abgeworfen. Deswegen war sie so benommen. Aber der Schatten war immernoch da. Sie blickte hoch.
Ein schreckliches, schwarzes Vieh, das abartig nach Verwesung stank, saß drohend aufgerichtet vor ihr und starrte auf den Reiter vor ihm. Eine weiße Gestalt, einen weißen Stab erhoben, von dem ein Licht ausging, so hell, dass es das Auge blendete, auf einem großen, grauen Pferd, das ruhig dastand und mit keinem Muskel zuckte. Gandalf der Weiße und Schattenfell.
„Verschwinde, Nazgul!“ brüllte Gandalf mit schrecklicher Stimme, die ihr grausam in den Ohren hallte.
„Hinweg mit dir, zurück zu deinem schwarzen Gebieter!“
Jetzt fiel ihr auch endlich der Reiter auf, der auf dem riesigen Vieh trohnte. In einen schwarzen Mantel war er gehüllt, eine schwarze Krone aus irgendeiner seltsamen Art von Metall saß auf dem Mantelkragen. Etwas wie ein Kopf war nicht zu erkennen. Dies also war der Fürst der Nazgul, von dem sie schon als Kind viele Schauergeschichten gehört hatte, von dem es hieß, dass kein Mann ihn vernichten könnte… Aber ein Zauberer vielleicht?
Gandalf jedenfalls ließ sich nicht beirren und auch das Pferd, Schattenfell, rührte sich nicht von der Stelle und bewegte keinen Muskel.
Das helle Licht schien das Flügeltier zu beunruhigen, denn es fauchte plötzlich los und streckte seinen Schlangenhals vor, wie um den Zauberer anzugreifen, doch hielt es plötzlich inne und wich wieder ein wenig zurück.
„Verschwinde, Nazgul!“ brüllte Gandalf wieder und diesmal klang es noch viel gebieterischer als zuvor. „Deine Macht ist gebrochen!“
„Du hast den Ring!“ fauchte der Nazgul. Das erste Mal, dass sie diese Stimme hörte. Ach, Gandalfs Stimme war ihr schon schrecklich erschienen, aber für diese gab es keine Beschreibung.
Gandalf, so weiß er auch sein mochte – welche Chance würde er schon groß gegen den Nazgul haben?
Der Stab des Zauberers leuchtete schon blendend hell, aber er schien immer noch heller und greller zu leuchten. Sie wandte die Augen ab von jener Gestalt und schlug die Hände vors Gesicht. Doch selbst durch ihre geschlossenen Augen drang noch immer der weiße Schein des Zauberers.
Seltsame Geräusche waren zu hören, Flügelschlagen, Gezische, Gefauche, Gandalfs Stimme, schrecklich und schön zugleich…
Endlich wurde das Gezische und Gefauche leiser, auch die Helligkeit schien abzunehmen. Sie blickte auf. Weiße Lichtpunkte tanzten noch immer vor ihren Augen, und einen Moment lang konnte sie nichts klar erkennen. Aber dann… Dort hinten war das Flügelvieh. Es lag in vielleicht hundert Schritt Entfernung am Boden, ausgestreckt, reglos. Die schwarze Gestalt war verschwunden.
Benommen stand sie wieder auf. Neben ihr stand noch jemand, eine kleine Gestalt…
„Herr Merry!“ rief sie aus.
„Dernhelm!“ Sie sahen sich an. Jeder las in den Augen des anderen, dass sie dasselbe gesehen hatten.
„Hoch lebe der weiße Reiter!“ Merry versuchte wohl, stolz und jubilierend zu klingen, aber er hatte sein Ziel gänzlich verfehlt. Auch sie fühlte sich ausgelaugt und erschöpft vom Kampf der Giganten, den sie beide gerade miterlebt hatten.
Eowyn blickte sich um. Das Schlachtfeld hatte sich verlagert, war jetzt einige Schritte entfernt und sie befanden sich in einer Art kampffreien Zone. Für den Moment. Von rechts näherten sich schwarze Gestalten.
„Wir müssen zu unserer Schlachtlinie!“ rief sie und setzte sich in Bewegung. Ein Pfeil fiel ganz in der Nähe nieder.
„Lauf!“
Der Hobbit ließ sich das nicht zweimal sagen, schnell wie der Wind rannten sie über den freien Platz. Doch zu spät. Finstere Gestalten näherten sich von rechts, strömten auf die freie Fläche, auf  sie zu. Keine Orks, Menschen. Aber genauso tödlich.
Es war vorbei, sie würden ihre Schlachtlinie nicht mehr erreichen können. Eingekreist waren sie, umgeben von Feinden. Ohne Chance auf Entkommen.
Schwer atmend blieb sie stehen und  packte ihr Schwert fester.
„Seid Ihr bereit, mit mir zu sterben, Merry?“
„Ich bin bereit, Dernhelm!“
Sie hob ihr Schwert.

Gut, dass Eomer gekommen war. Er hatte nicht nur Dernhelms und sein Leben gerettet, sondern ihnen auch das Pferd eines Gefallenen mitgebracht.
„Merry, ich hätte nicht gedacht, dass Ihr für eine Schlacht der richtige Mann seid!“ hatte Eomer dem Hobbit erklärt. „Aber jetzt, wo ich Euch gesehen habe, bin ich geneigt, meine Meinung zu ändern.“
In der Tat hatte Merry im Kampf Mann gegen Mann relativ gute Karten. Da die Feinde ihn in der Regel übersahen, stolperten sie zum Teil über ihn und er konnte auch gut nach ihren stechen und viele schwer verwunden oder auch töten.
Aber das hatte zur Folge, dass ihm langsam alles wehzutun begann von all den Schlägen und Tritten, die er abbekommen hatte und so war er froh, wieder vor Dernhelm im Sattel zu sitzen.
Dernhelm hieß er, der Mann, der ihn mit in den Kampf getragen hatte. Warum hatte er es nur getan? Aus Freundlichkeit? Oder weil er an ihn geglaubt hatte? Irgendwie kam ihm Dernhelm wahnsinnig bekannt vor. Er war sich beinahe sicher, dass er ihn irgendwo in Rohan schon einmal gesehen hatte.
Aber da waren so viele gewesen…
Auf jeden Fall war Dernhelm jeden Zoll seiner Rüstung wert. Wie er auf die Feinde einhieb. Von Angst war bei ihm nichts zu erkennen. Selbst als sie beide allein gegen dieses Südländerheer gekämpft hatten… Er war bereit, dem Tod ins Auge zu blicken, und er war so edel und tapfer und mutig…
Doch jetzt waren sie wieder zu Pferd.
Plötzlich tat das Tier einen gewaltigen Satz zur Seite. Beinahe wäre er aus dem Sattel geworfen worden. Und schon sah er auch den Grund vor sich aufragen: da war ein gewaltiger Olifant vor ihm. Das Pferd scheute, warf sich zur Seite und verfiel in rasenden Gallopp.
Wenn sie jetzt hinunterfielen…
Dernhelm kämpfte. Er rief Worte in der fremden Sprache der Rohirrim, hantierte wild mit den Zügeln…
Mit Erfolg, so schien es. Das Pferd beruhigte sich allmählich etwas, schlug eine langsamere Gangart ein…
Dernhelm hatte Glück gehabt, sein Pferd so schnell in den Griff zu bekommen. Denn einige  Schritte vor ihnen waren Orks und sie hatten eine Phalanx geformt – lange Lanzen, die sie vor sich hielten, bildeten einen dichten Wald, bereit, jedes Pferd aufzuspießen, dass sich hineinverirren sollte.
Und durch die Olifanten waren viele der Tier toll geworden und jagten genau auf diesen Lanzenwald zu, völlig uneinsichtig dieser neuen Gefahr.
Und allen voran Schneemähne, das weiße Pferd Theodens.

Dernhelm überlegte nicht lange, er trieb das Pferd wieder zur Höchstgeschwindigkeit an.
Merry krallte sich gut in der Mähne des Tieres fest. Oh, wenn sie es doch nur schafften… Theoden durfte nicht sterben!
Einen Bogen ritt Dernhelm, alles niedertrampelnd, was sich ihm in den Weg stellte. Heran, heran, schnell, immer näher auf die Lanzenträger zu, bis er an ihrer Reihe in einem Abstand von zwei Schritten entlangfegte… Merry konnte die Mienen der Orks gut erkennen, die wütend fauchten und versuchten, mit ihren Lanzen das Pferd zu erwischen… Aber zum Glück an ihrem Platz verharrten und nicht etwa auf sie zutraten.
Sie waren wirklich sehr nah dran jetzt, konnten schon die Ausdünstungen ihrer Feinde riechen –keine Kunst, denn ein betäubender Gestank ging von ihnen aus…
Dort war schon Theoden, versuchte verzweifelt, sein Pferd zu kontrollieren, doch ach, es war toll, nur noch wenige Schritte bis zu den Lanzen…
Doch schon war Dernhelm heran, sein Pferd drängte sich zwischen Schneemähne und den Lanzenwald, wobei es selber von dem wahnsinnigen Hengst fast in die todbringenden Stangen gedrängt wurde. Theoden starrte sie an und rief etwas, doch es war nicht zu verstehen.
Auch Dernhelm schrie, und auch Merry schrie auf.
Zu spät, alles zu spät, Schneemähne stieg, seine Vorderhufe kamen gefährlich nahe… Ihr Pferd wich zur Seite aus, sie hörten es aufschreien… linker Hand ein unglaubliches Lanzengewirr, das ihnen ziemlich sicher den Tod bringen würde…
Doch dann ließ Schneemähne seine Hufe wieder auf den Boden krachen, dicht neben ihnen, Erdreich spritzte hoch auf und der weiße Hengst machte auf dem Absatz kehrt und jagte davon, gallopierte kopflos weiter, aber diesmal von der Phalanx weg.
Sie hatten Theoden gerettet.
Doch das half ihnen fürs erste nichts. Merry hörte ihr eigenes Tier schnauben, offensichtlich war es selbst verletzt worden, und schon drängten die Orks näher heran, bereit, das Pferd aufzuspießen, das treue Tier strauchelte und stolperte, beinahe wäre es gefallen…
Dernhelm stieß einen Schrei aus, hantierte wieder mit den Zügeln, das Pferd wieherte auf und machte einen gewaltigen Satz zur Seite, aus der Reichweite der Lanzen hinaus…
Und jagte dann, genauso wie Schneemähne, davon, weg, möglichst schnell Abstand zwischen sich und die Orks bringend.
Sie hatten es geschaft, waren für den Augenblick wenigstens im Niemandsland, weg von allen Schlachtreihen.
Einen Moment lang hielt Dernhelm an und betrachtete die Wunden ihres Tieres. Blut lief die Flanken hinab und es wiehete vor Schmerz, als er eine Wunde berührte, doch schienen die Verletzungen nicht tief zu sein.
Er stieg wieder auf und weiter ging es, weiter weg von der Phalanx, und vor allem, weiter weg von den Olifanten. Es gab auch an anderen Fronten noch genug zu tun, schließlich waren die Feinde quasi überall.
Weiter ritten sie, weiter, zurück in die Schlachtreihen der Rohirrim. Noch so manch ein Ork und Südländer fiel unter den mächtigen Hieben von Dernhelm. Er hatte Merry die Zügel übertragen, sodass der Hobbit wenigstens noch eine Aufgabe hatte und die bestand zumeist darin, das Pferd aus der Nähe der Olifanten zu halten, damit es nicht wieder Panik bekam.
Plötzlich hielt Dernhelm einen Moment lang inne. Sein Blick war auf eine Gestalt gerichtet, die völlig steif im Sattel eines Pferdes saß und, wie es aussah, völlig mechanisch einen Feind nach dem anderen köpfte. Die Gestalt war von oben bis unten in Blut getaucht und so schrecklich wirkte sie, dass Merry nicht wusste, um wen es sich handelte, bis sie ganz nahe waren. Es war Boromir.

Boromir saß noch immer irgendwie im Sattel. Wie er sich so lange hatte halten können, war ihm ein absolutes Rätsel. Sein Kopf schmerzte, sein Arm schmerzte, er hatte einen roten Schleier vor Augen…
Sterben, sterben für Gondor…
Seine Gedanken waren ein klein wenig klarer als zu Beginn der Schlacht. Er wusste, dass er keine Chance hatte. Dies war völlig hoffnungslos. Noch ein klein wenig den Tod hinausschieben, nicht mehr lang, nur noch ein wenig… noch diesen Ork töten und jenen…
„Boromir, nicht!“ rief plötzlich der Ork vor ihm.
Mit einer Stimme, die ihm bekannt vorkam.
„Merry?“ fragte er.
„Ja!“ hörte er den Hobbit rufen.
„Merry!“ rief Boromir erfreut aus. „So bist du gerettet aus den Händen der Orks?“
„Ja, aber Boromir! Das weißt du doch! Und das ist doch schon ewig her! Wir müssen ihn nach Minas Tirith bringen, Dernhelm! Er ist völlig durcheinander.“
„Du hast recht!“ antwortete jemand anders. Eowyns Stimme! Eowyn!
Er konnte nur eine schattenhafte, rote Gestalt vor sich erkennen… Mehr nicht.
„Eowyn!“ murmelte er noch einmal.
„Eowyn!“ Er fühlte eine Hand auf seiner Hand.
„Er hat hohes Fieber, Dernhelm! Er hält dich für Eowyn! Ach, dass er doch gerettet wird! Er ist so tapfer.“
Das war wieder der Hobbit.
Jemand ergriff seinen Zügel, und sie ritten voran, schneller…
„Halt dich fest, Boromir! Wir bringen dich in Sicherheit!“ hörte er Eowyn wieder. Eowyn! Wieso nur Eowyn? Was machte sie hier auf diesem Schlachtfeld? Es musste so sein, wie der Hobbit gesagt hatte… Er musste hohes Fieber haben.
Sie ritten ewig, so schien es ihm. Sein Körper war eine einzige Masse des Schmerzes, sein Kopf musste mittlerweile wirklich irgendwie geplatzt sein, er konnte fast überhaupt nichts mehr sehen.
Eine neue Stimme drang an sein Ohr, von fern…
„Boromir!“ Auch diese Stimme kannte er.
„Kommt, gebt ihn mir!“ sagte sie, und klang so vertraut…
Er wechselte das Pferd, so schien es, wurde auf ein anderes Tier gehoben… Jemand legte seine Arme um ihn…
„Boromir!“
„Vater!“ flüsterte Boromir.
Dann war alles schwarz.

8. Die Häuser der Heilung

Er erwachte. Sein Kopf schmerzte und er konnte kaum etwas erkennen. Ach ja, er war in Helms Klamm.
„Boromir, komm zu dir!“ hörte er eine Stimme rufen. Eine Stimme, die er kannte.
„Vater?“
Tatsächlich. Ein Gesicht beugte sich über ihn, stolze graue Augen blickten ihn an.
„Vater!“
„Mein Sohn! Welche Angst hatte ich, dich zu verlieren.“
Von fern hörte Boromir eine Stimme. Eine edle, angenehme Stimme. Er kannte auch diese.
„Aragorn!“
„Ja! Und jetzt schlaf, Boromir. Ruh dich aus.“
Und Boromir dämmerte wieder weg.

Als er erneut erwachte, sah er klarer. Jemand saß an seinem Bett. Noch ein bekanntes Gesicht.
„Faramir!“
Er lächelte. Faramir, sein Bruder. Jetzt war die Familie ja komplett.
„Wo ist Vater?“
„Er schläft. Er hat die ganze Zeit bei dir gewacht. Doch auch er muss irgendwann ruhen.“
„Da hast du recht.“
„Wie geht es dir?“
Boromir hatte sich darüber noch keine Gedanken gemacht, aber jetzt fühlte er es wieder.
„Jeder Muskel meines Körpers schmerzt und ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen.“
„Du bist so ehrlich. Willst du mir jetzt  nicht erzählen, dass du nicht verletzt bist?“
Faramir lächelte, aber Boromir sah die Besorgnis in den Augen seines Bruders.
Auch er lächelte.
„Jetzt nicht. Ich weiß, du redest von damals, als der Orkpfeil mich niederstreckte…“
„Und obwohl du schwer verletzt warst, wolltest du noch weiter kämpfen. Man musste dich mit Gewalt an dein Lager halten.“
„Ich erinnere mich… Und diesmal wäre es vielleicht besser gewesen, wenn man mich nach Helms Klamm ans Bett gefesselt hätte… Schon damals hatte ich höllische Kopfschmerzen.“
„Ich hab schon alles gehört. Du hast sehr tapfer gekämpft.“
„Wer hat das erzählt?“
„Eomer. Und Aragorn.“
„Aragorn… Faramir, er ist der rechtmäßige König! Sag Vater, er darf ihn nicht bekämpfen! Um Gondors Willen!“
„Er weiß es, Boromir. Und er wird ihn nicht bekämpfen. Denn ohne Aragorn wärest du nicht mehr am Leben. Die Hände eines Königs sind die Hände eines Heilers, so sagt man. Und er war es, der dich wieder ins Leben zurückrief, nachdem dir kein anderer mehr helfen konnte.“
„Aragorn hat mich gerettet…“
„So wie du ihm einst das Leben gerettet hast. Er spricht stets vollerZuneigung von ir und lobt dich in den höchsten Tönen… Fast bin ich geneigt, ihm zu glauben…“ Faramir lächelte sein sanftes, feines Lächeln. „Und er bat mich, dir Ruhe zu gönnen.“
„Faramir! Du musst mir alles erzählen! Was genau ist geschehen?“
„Boromir! Hast du nicht gehört? Du sollst dich ausruhen! Aber ein wenig werde ich dir wohl erzählen müssen, sonst regst du dich noch mehr auf, als wenn ich es nicht tue…
Nach deinem Aufbruch nach Bruchtal damals hatten wir nach wie vor viel zu tun, um die Feinde abzuwehren. Aber wir wussten, dass dies nur kleine Gefechte waren und dass das große noch auf sich warten ließ. Vor einigen Tagen nun begann der Feind dann, richtig schweres Gerät aufzubringen. Er nahm Osgiliath ein, dass ich besetzt gehalten hatte, und es waren zu viele, um sie zurückzuschlagen. Ich zog mich mit meinen Männern zurück. Vater war sehr böse auf mich und meinte, dass du die Stadt gehalten hättest. Er hat schon bald bedauert, dass du aufgebrochen bist. Wir haben uns ernstthaft gestritten, aber ich wusste, es war vergebens, Osgiliath halten zu wollen.“
„Wenn Vater mich gebeten hätte, Osgiliath zu halten, hätte ich es getan!“ seufzte Boromir. „Aber du hast recht – es war von Anfang an utopisch zu glauben, die Stadt halten zu können.“
„Das freut mich, dass du so denkst. Und auch Gandalf hielt es für das Beste. Deswegen habe ich mich mit meinem Vater schlimm überworfen. Er war so wütend auf mich, dass ihm die Belagerung des Pelennors egal war. Er hat sich in seinen Turm zurückgezogen und nichts getan. Gandalf hatte den faktischen Befehl über die Truppen.
Aber dann, mitten in der Schlacht, ist Vater auf einmal auf dem Schlachtfeld erschienen. Wie ein Wahnsinniger hat er sich in die Reihe der Feinde gestürzt. Wir wussten nicht – will er sich umbringen? Ich hatte ihn aus den Augen verloren, doch dann war er plötzlich wieder da – und hielt dich in seinen Armen. Du hast uns einen schlimmen Schrecken eingejagt. So voller Blut… Wir hielten dich zuerst für tot!“
„Vater… Ich erinnere mich… Doch ich hielt es für einen Traum… Und ich träumte von Eowyn…“
Faramir schwieg und sah seinen Bruder liebevoll an.
„Und du?“ brach Boromir wieder das Schweigen.
„Was hast du getan? In der Schlacht?“
„Ich bin mit Imrahil von Dol Amroth hinausgeritten und habe die Reiterei befehligt. Wir hatten viel zu tun. Doch nun ist die Schlacht vom Pelennor geschlagen und wir haben gesiegt.“
„Ach, Faramir… Verzeih mir. Ich habe an dir gezweifelt…“
„Viel habe ich nicht beigetragen zu jener Schlacht, Boromir. Nur jene Pflicht hab ich erfüllt, die jeder Soldat erfüllt, der sein Vaterland verteidigt…“
„Aber wir haben gesiegt.“
„Wir haben gesiegt.“
Wieder trat eine kurze Pause ein und er sah Faramir an, dass er sich unauffällig davonschleichen wollte… Doch Boromir wollte ihn nicht gehen lassen.
„Und jetzt?“ fragte er darum seinen Bruder.
„Ja, jetzt…“ seufzte Faramir. „Gandalf meint, es ist das beste, wenn wir uns selbst als Köder anbieten, damit Frodo den Ring vernichten kann, weil der Feind abgelenkt ist!“
„Frodo? Was weißt du von Frodo?“
„Ich habe ihn gesehn, Boromir. In Ithilien. Vor einigen Tagen. Und es ging ihm gut.“
„War Sam bei ihm?“
„Ja.“
„Ach, Frodo. Was hab ich ihm nur angetan damals.“
„Nichts hast du, Boromir. Du hast ihm nichts getan.“
„Und der Ring, Faramir? Hatte er den Ring bei sich?“
„Ja.“
„Und hast du nicht versucht, ihn zu nehmen?“
„Nein.“
„Nein. Du hast den Ring nicht genommen. Du hast es noch nicht einmal versucht. Vor einiger Zeit hätte ich dich einen Narren genannt, Faramir. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, wer der Narr ist von uns beiden. Ich weiß garnichts mehr.“
„Du bist müde, Boromir. Du musst jetzt ruhen. Wir werden noch viele Gelegenheiten haben, zu reden.“
„Du hast noch Hoffnung, Faramir?“
„Ich habe noch Hoffnung, jetzt, wo wir den weißen Reiter haben und Aragorn…“
„Und Faramir, Denethors Sohn…“
„Schlaf, Boromir.“
Er gehorchte.

„Eomer!“
Noch mehr Besuch, und netter Besuch. Eomer war gekommen! Zwei starke Arme packten Boromir, sein Kopf lag irgendwie komisch an der Brust seines Freundes… Schwindel breitete sich aus… die starken Arme drückten ihn ganz fest und wollten ihn zerquetschen… Wie schon einmal….
„Eomer!“ keuchte er erstickt.
„Boromir! Oh, es tut mir leid! Um Mordors Willen! Hab ich… dir weh getan?“
„Nein, geht schon…“
„Tut mir leid! Aber ich bin so erleichtert!“
Die starken Arme ließen Boromir behutsam in die Kissen zurückgleiten. Er konnte einen erleichterten Seufzer nicht unterdrücken.
Eomer sah ihn sehr erschrocken und ängstlich an.
„Und es geht dir gut, ja?“
„Ja!“
Es war natürlich eine Lüge. Seit Helms Klamm fühlte er sich so bescheiden wie noch nie zuvor in
seinem Leben. Aber sein Freund wirkte so ängstlich… da fiel ihm etwas ein.
„Eomer! Ich wollt dich schon die ganze Zeit was fragen! Also da in der Schlacht, mit diesem Hörnerschall…“
„Boromir!“ fiel ihm Eomer ins Wort, „du hast mir so eine Angst eingejagt! Ich war sicher, dass du die Schlacht nicht überleben würdest. Du hast andauernd Unsinn geredet! Und ausgesehen, als würdest du jeden Moment vom Pferd fallen. Und als dann dieser Ork kam…“
„Du hast mir das Leben gerettet! Ich erinnere mich. Du hast etwas gerufen und ich konnte dich nicht verstehen und dieser Ork… Aber hör mal, das mit dem Hörnerschall….“
„Wieso hast du nur dein Schwert nicht gezogen? Ich war sicher – du würdest sterben! Und dann endlich hast du zu kämpfen angefangen, aber du hast so schrecklich geschwankt und ich…“
„Ja, Eomer, aber hör mal, diese Hornbläser…“
„Ich kann es garnicht beschreiben! Ich hab meinen besten Männern befohlen, auf dich aufzupassen und dann sind so viele Orks überall gewesen und ich hab dich aus den Augen verloren… Und meine Männer ebenfalls. Oh, Boromir… als ich das gesehen habe, war ich sicher, dass du… es nicht geschafft hast.
Und dann kam ich hierher in die weiße Stadt und erfuhr, dass du lebst… Ich glaube, das war der glücklichste Moment in meinem Leben.“
„Langsam, langsam… man könnte ja meinen…“
Boromir lächelte ein wenig verträumt.
„Du hast die Augen deiner Schwester.“
„Ja!“
Wieso verfinsterte sich nur das Gesicht seines Freundes so plötzlich?
„Ich hab geträumt, dass sie da war in der Schlacht, Eomer…. Sie hat meinen Namen gerufen… Mit deiner Erlaubnis würde ich sie gerne heiraten, wenn alles vorbei ist… Falls das alles jemals vorbei ist… Und sie mich noch will. Wir trennten uns nicht im besten Einvernehmen!“
„Ich weiß, Boromir…. Doch hab Mut, du wirst sie noch eher sehen als du vielleicht denkst und dann…“
„Eomer – nein – erzähl mir nicht – nicht, dass…. dass sie wirklich in der Schlacht war! Eomer! Wenn das stimmt…. wenn das wahr ist…“
„Ruhig, Boromir. Aragorn sagt, du brauchst noch viel Ruhe. Reg dich nicht auf. Es wird eine Zeit kommen für dich und Eowyn… Aber sie ist nicht jetzt. Jetzt ist Zeit zum Ausruhen und zum Schlafen. Schlaf drum, Boromir. Schlaf…“
„Aber… wenn sie mitgeritten ist…“
„Schlaf, Boromir.“
„Schlaf, Boromir…“
Und Boromir schlief.

9. Dernhelm

‑Merry! Theoden sah Merry an. Seine Augen blickten sehr freundlich drein.
‑Ich habe von dir viel gutes gehört und gesehen in dieser Schlacht. Und dir und dem Reiter, mit dem du geritten bist, verdanke ich dein Leben. Und so, wie ich jetzt dir danken möchte, möchte ich auch jenem Reiter danken. Wie ist sein Name und wie kann ich ihn finden?
‑Auch ich würde gern seinen Namen erfahren! rief Eomer aus.
‑Allein kämpfte er gegen Dutzende von Südländern. Er ist überaus tapfer und wert, dass man sein Lied immer wieder singen wird.
‑Sein Name ist Dernhelm! verkündete Merry feierlich.
‑Dernhelm. Ich erinnere mich nicht dieses Namens. Er ist noch jung, nicht wahr?
‑Doch, in der Tat.
‑Dann folge mir, Merry, und lasst uns gemeinsam jenen Dernhelm finden.
Sie wanderten durch das Feldlager, in dem die Rohirrim es sich gemütlich gemacht hatten  sofern man davon sprechen konnte. Als Theoden kam, brachen allen in Hochrufe aus.
‑Hoch Theoden, unserem König, der uns in eine Schlacht geführt hat  und in den Sieg!
‑Hoch Theoden, König von Rohan!
‑Lang lebe der König!
‑Lang lebe Merry, der Halbling!
Merry wurde über und über rot.
‑Lang lebe Merry, der den König gerettet hat!
‑Ich hab doch nichts getan! rief Merry aus. ‑Das war doch Dernhelm!
‑Lang lebe Dernhelm!
‑Ja, lang lebe Dernhelm!
‑Wer ist denn dieser Dernhelm? fragte plötzlich jemand.
‑Ja, genau! Und wo ist er überhaupt?
Die Männer sahen sich erstaunt an. Wo war nur Dernhelm hin? Sie suchten ihn überall, sie kamen an vielen tapferen Männern vorbei, die großes in der Schlacht geleistet hatten, aber Dernhelm fanden sie nicht.
‑Dernhelm? Ich kenne niemand dieses Namens! erklärte schließlich ein vernarbter alter Haudegen, an dem sie vorbeikamen.
‑Aber vorhin ist ein junger Grünspan, der sogar jetzt, nach dem die Schlacht geschlagen ist, seinen Helm nicht abgenommen hat, dort drüben verschwunden bei Eurem Anblick, oh König!
Theoden blickte in die angegebene Richtung. Er schien sich aus dem Kreis des Feuers geschlichen zu haben. Seltsam für einen jungen Krieger.
Doch was war das? Eine schattenhafte Gestalt erschien am Rand des Lagerplatzes und trat auf den König zu. Er trug noch immer den Helm auf dem Kopf.
‑Ja, das ist Dernhelm! rief Merry vergnügt aus.
Theoden aber blickte den jungen Mann feierlich an.
‑Dernhelm  ich verdanke dir mein Leben. An deiner Reaktion vermute ich, dass ich dich kennen müsste und dass ich gedroht habe, dich zu bestrafen. Aber habe keine Furcht, denn du hast das Leben des Königs gerettet. Was immer du getan hast  es sei dir vergeben. Und jetzt nimm den Helm ab.
Und Dernhelm nahm den Helm ab.

Eowyn war sich der Vielzahl der Augen bewusst, die sie anstarrten. Theoden stand da, bleich war er und sah nicht mehr so feierlich drein wie vorher.
‑Eowyn! stammelte er. ‑Bei den Göttern, Eowyn.
Sie wusste  er war böse auf sie. Er würde ihr nie verzeihen, dass sie ihr Wort gebrochen und nicht in Dunharg geblieben war.
‑Eowyn! verbreitete sich der Ruf durch das ganze Lager.
‑Eowyn! Hoch lebe Eowyn!
‑Ich habe dir Straffreiheit versprochen! Ich habe gesagt, ich würde dir vergeben, was immer du getan hast, hub Theoden schließlich an zu sprechen und sah ihr ernst in die Augen.
‑Ich werde mein Wort halten. Aber was hast du dir dabei gedacht, dein Volk im Stich zu lassen, dich von den Deinen fortzustehlen und in dieser Schlacht mitzukämpfen?
‑Mein König! Eowyn fühlte sich plötzlich ganz ruhig. Sie wusste genau, was sie sagen musste.
‑Habe ich denn wirklich mein Volk verlassen? Habe ich nicht meinem Volk das dargeboten, was ich am besten kann  kämpfen? Und habe ich nicht bewiesen, dass es vielleicht wirklich meine Bestimmung war, an dieser Schlacht teilzunehmen? War ich es meinem Volk nicht schuldig?
Plötzlich begannen Theodens Augen zu leuchten, er trat vor und umarmte sie. Und sie legte ihren Kopf an seine Schulter und sie waren sich so nahe wie schon lang nicht mehr.
‑Ach Eowyn  wenn ich es gewusst hätte  ich hätte es nicht erlaubt. Die Gefahr, dich zu verlieren… Aber es hat so sollen sein. Ich vergebe dir alles.
Und er ließ sie los und rief laut aus:
‑Hoch lebe Dernhelm! Hoch lebe Eowyn!
Und das ganze Lager stimmte in die Rufe mit ein.
Theoden hatte ihr vergeben. Das war gut. Aber etwas anderes belastete sie noch immer…
‑Wo ist Boromir? Und wie geht es ihm? fragte sie schließlich.
Theodens Gesicht wurde wieder ernst.
‑Ich weiß es nicht. Wir werden jemanden fragen! Und sie durchquerten wieder das Feldlager und schritten auf Minas Tirith zu.
Sie hatte sich nicht getraut, irgendjemanden nach Boromir zu fragen. Sie wusste, dass er schlimm verletzt war. Wie sie ihn gefunden hatte, blutverschmiert… Wie er sich kaum noch im Sattel hatte halten können…
‑Ach, Boromir! seufzte sie leise.
Wie wütend war sie damals gewesen, in Dunharg, als er gesagt hatte, dass Frauen nicht kämpfen sollten…
Aber ach, wie lang war es schon her… drei tage? Erst? Und doch eine so lange Zeit. Er hatte nach ihr gefragt, damals. Merry hatte er gefragt, kurz vor dem Aufbruch. Und er war enttäuscht gewesen, dass er sie nicht mehr gesehen hatte.
Aber sie war schon in voller Kampfmontur gewesen und hatte ihn nicht mehr ansprechen können  und sie war noch immer wütend gewesen. Und jetzt?
Nach Ruhm und Ehre hatte sie einst gestrebt, sie hatte beides gewonnen in dieser Schlacht  doch was bedeutete Ruhm und Ehre, wenn sie den Mann verlor, den sie liebte? Und selbst wenn er kein König werden sollte, wenn er ein normaler Bauernsohn wäre… wenn er doch nur überleben würde!
‑Merry! Plötzlich stand ein kleiner Kerl vor ihnen, ein Kind?
‑Pippin! rief Merry aus.
Dies musste der Hobbit sein, von dem Merry soviel erzählt hatte. Die beiden Kerlchen umarmten sich.
‑Und König Theoden! Pippin wagte eine artige Verbeugung und neigte dann auch sein Haupt vor Eowyn. Er sah sie sehr neugierig an und wandte sich dann wieder an Merry.
‑Gandalf hat gesagt, ich soll dich rufen! Und den Herrn Theoden auch!
‑Kommst du aus der weißen Stadt? fragte Eowyn. Sie konnte ihre Gefühle kaum mehr bezähmen und spürte, wie ihre Stimme zitterte.
‑Ja, das stimmt! sagte Pippin und betrachtete sie noch neugieriger.
‑Hast du Kunde von Boromir, Denethors Sohn?
‑Oh  der ist in den Häusern der Heilung. Aragorn ist bei ihm, glaube ich.
‑Und wie geht es ihm?
‑Ich weiß es nicht. Aber wenn Ihr mir folgt, werdet Ihr sicher alles erfahren! meinte der Hobbit.

Was tat Aragorn nur bei Boromir? Wieso war er da, was hatte er da zu suchen? Sie lief schnell, obwohl sie erschöpft war, obwohl ihr alles wehtat… Und der Weg war lang, unendlich lang…
Sie liefen die ganze Zeit im Kreis, die Stadt schien in einer großen Spirale errichtet zu sein. So viele Steine, so ein langer Weg… Und irgendwo hier war Boromir, vielleicht an der Grenze zum Tod, vielleicht sogar schon tot… Als sie ihn gesehen hatte in der Schlacht, so voller Blut, kaum fähig, sich zu verteidigen… Er hatte ihren Namen gerufen, sie an der Stimme erkannt.
‑Oh Boromir, was gäbe ich dafür dich noch einmal lebend zu erblicken! dachte sie verzweifelt.
‑Sind wir nicht bald da? erkundigte sie sich bei dem Hobbit namens Pippin.
‑Wir haben gut ein Viertel des Weges schon bewältigt! verkündete der kleine Kerl fröhlich und unterhielt sich weiter mit seinem Freund.
‑Ja, und die ganzen Orks…War das nicht beängstigend? Alle so nah… Wir hatten so schon genug zu tun in der Stadt, aber draußen müssen doch noch viel mehr gewesen sein…
Sinnloses Geschwätz der Hobbits. Noch drei Mal so viel zu gehen wie das Stück, das sie schon zurückgelegt hatten?
Sie merkte, wie sich ihre Schritte beschleunigten, sie eilte an den Hobbits vorbei, nach oben, es gab nur einen Weg… Oh, wenn sie doch nicht zu spät kam…

Endlich waren sie oben.
Nach einer Ewigkeit war sie an einem freien Platz angelangt, über ihr ragte nur noch ein weißer Turm in den Himmel empor.
Davor stand Gandalf und Eomer war bei ihm und noch jemand, der Boromir verblüffend ähnlich sah…
Sein Bruder? Wie hieß er noch gleich? Faramir?
Sie blieb stehen, schwer atmend. Von den Hobbits oder Theoden war noch nichts zu sehen oder zu hören.
Eomer hatte sie entdeckt und eilte auf sie zu.
‑Eowyn! rief er aus. ‑Was tust du hier, im Namen der Götter! Hast du etwa…
Erkennen blitzte in ihm auf.
‑Das warst du, zusammen mit Merry da heute in der Schlacht!
‑Ja, Eomer und danke für das Pferd, aber wie geht es Boromir?
‑Er wird leben!
Nicht ihr Bruder hatte diese Worte gesprochen.
Sie drehte sich um und dort stand Aragorn.
‑Er ist schwer verletzt. Man hätte ihn nicht reiten lassen dürfen nach Helms Klamm. Die Kopfwunde war gefährlich. Dass er die Schlacht überlebt hat, ist ein Wunder. Aber er wird es schaffen.
‑Kann ich zu ihm?
‑Ich weiß nicht… Er schläft, und sein Vater ist bei ihm.
‑Ich denke schon, dass Ihr ihn sehen könnt! ertönte plötzlich eine Stimme. Die Stimme des Bruders.
‑Folgt mir  ich werde Euch zu ihm führen.
Und er setzte sich in Bewegung. Sie eilte hinter ihm her.
‑Ihr seid sehr gütig!
Faramir drehte sich zu ihr um und lächelte.
‑Boromir hat die ganze Zeit Euren Namen gemurmelt. Er würde es mir sicherlich ernsthaft übelnehmen, wenn Euch der Zugang zu ihm verwehrt bleibt.

Und dann stand Eowyn neben Boromirs Bett. Wie bleich er war. Leichenblass. Doch er atmete, sie konnte es sehen. Seltsam roch es in dem Zimmer, nach irgend einem Kraut, zweifelsohne. Das sie aber nicht benennen konnte. Doch es roch heilsam.
Jemand stand neben ihr. Graue Haare, der Rücken gebeugt, ein alter Mann… Doch sie spürte die Macht, die noch immer von ihm ausging. Und als er sie ansah, blickte sie in Boromirs Augen.
‑Herr Denethor  entschuldigt mein Eindringen in das Zimmer Eures Sohnes! hub sie an. ‑Aber…
‑Es ist gut, mein Kind!
Denethor hatte die Hand erhoben.
‑Er hat viel von Euch gesprochen… Immer wieder Euren Namen gemurmelt, im Fieber… Ich denke, es ist nur recht und billig, dass Ihr hier seid.
Sie verneigte sich leicht.
‑Ihr seid zu gütig, Herr…
Einen Moment standen sie schweigend nebeneinander, dann erhob Denethor wieder die Stimme.
‑Ich hab ihn gesehen, Boromir… auf dem Feld… das Blut, dass über seine Stirn lief… Wie er schwankte…
Und da habe ich mein Schwert ergriffen und ließ mir mein Streitross bringen und bin selbst hinaus in die Schlacht geritten. Überall suchte ich meinen Sohn, und schließlich fand ich ihn… Er war so bleich und voller Blut und er stammelte Euren Namen, immer wieder… Als ich ihn fand, war einer aus Eurem Volk bei ihm, übrigens. Er hat sein Leben gerettet… Später werde ich ihn rufen und ihm danken, aber jetzt…
‑Jetzt hat Euer Sohn natürlich Vorrang. Und Ihr braucht ihm nicht zu danken. Euer Sohn hat viel für Rohan getan und die Rohirrim lieben ihn.
‑Ist das so? Als Gandalf kam und sagte, dass Boromir in Rohan geblieben ist, dachte ich, dass Boromirs Platz bei seinem Volk gewesen wäre und dass er alles hätte daransetzten müssen, so schnell wie möglich zu mir zurückzukehren! Aber vielleicht habe ich mich geirrt… Wie so oft…
Ich hielt meinen Sohn in meinen Armen und wusste, er lag im Sterben und niemand konnte ihm mehr helfen… Und dan erzählte die alte Ioreth etwas …
Die Hände eines Königs sind heilende Hände, so hieß es, ich erinnere mich…
Und ich dachte noch, dass ich mich geirrt hatte, denn niemals würde Boromir König werden können und ich wünschte mir jenen Erben Isildurs herbei, der einst in meiner Armee gedient hat… Und dann kam jener Mann und hat meinen Sohn geheilt.
‑Aragorn…
‑Ja, Aragorn. Und ich, der ich ihn vorher verflucht hatte und seinen Tod wünschte…  Wie kann man Groll gegen jemanden fühlen, der gerettet hat, was man am meisten liebt auf der Welt…
Ja, wie konnte man. Wie konnte man nur!
Tief bewegt verließ Eowyn die Kammer.

Man hatte sie in den besten Quartieren untergebracht, die man sich nur vorstellen konnte. Vermutlich irgendwo in der Nähe der Privatgemächer des Truchsess. Ihr fehlte es an nichts, jeder Wunsch wurde ihr von den Augen abgelesen… Aber sie begehrte nur, Boromir zu sehen. Doch wenn sie wachte, schlief er und sein Vater oder sein Bruder waren bei ihm, und er erwachte nur, wenn sie selbst der Müdigkeit in die Hände gefallen war.
Allein war sie, meistens, wie damals in Edoras… Und auch hier ließ man sie in Ruhe, vielleicht hielten sie sie hier auch für kalt und abweisend… oder sie spürten, das sie niemanden sehen wollte und respektierten das.
So stand sie oft oben, in der Nähe des weißen Baumes, unbehelligt, und beobachtete das Treiben auf den Straßen… Und Mordor.
Aber diesmal blieb sie nicht allein, wie sonst.
König Theoden trat auf sie zu.
‑Eowyn!
‑Mein König!
Beide sahen hinunter, sahen die Soldaten, klein wie Ameisen, herumwuseln, sahen die Ausbesserungsarbeiten am großen Tor…
‑Es wird wieder eine Schlacht geben, stellte Eowyn ruhig fest.
‑Ja, das wird es! bestätigte Theoden ruhig.
‑Und wann?
‑Morgen brechen wir auf. Wir werden den dunklen Herrscher zur Schlacht herausfordern.
‑Gibt es denn keine Hoffnung mehr?
‑Doch, es gibt noch Hoffnung. Und deswegen werden wir reiten.
‑Lasst mich mitreiten, mein König.
Sie wusste, dass er diese Frage gefürchtet hatte. Und sie wusste, wie es in seinem Herzen aussah.
‑Eowyn  Schwestertochter –
‑Ich weiß, Ihr wollt mich nicht gehen lassen, mein König. Weil Ihr mich liebt und nicht wollt, das mir ein Leid geschieht. Aber versteht  ich fühle mich verpflichtet, für die zu kämpfen, die ich liebe. Mein Volk.
‑Und Boromir.
‑Und Boromir.
‑Ich ahnte, dass du so reden würdest, Eowyn. Ich habe es befürchtet. Wie sehr hast du dich doch verändet. Wolltest du nicht immer kämpfen und Ruhm und Ehre über dich und auch mich bringen?
‑Was sind Ruhm und Ehre? Schall und Rauch!
Sie meinte es wirklich so. Nach einer Schlacht war man immer klüger.
‑Schall und Rauch, murmelte Theoden und fuhr dann mit kräftigerer Stimme fort: ‑Schall und Rauch. Vielleicht. Auch ich strebte einst nach Ruhm und Ehre… Und ich habe es immer verkündet, heldenhafter Sieg und heldenhafter Tod… Obwohl ich es besser wusste…
Beide schwiegen für einige Zeit.
‑Es ist Zeit für mich, Eowyn. Ich bin ein alter Mann und werde wieder meine Kammer aufsuchen… Nacht bricht herein, und niemand weiß, was der nächste Morgen bringen mag…
Er verließ sie, ließ sie allein zurück, in Minas Tirith, wartend auf den Untergang der Welt…
Seine Schritte wurden leiser, verstummten plötzlich.
‑So reite denn mit uns! tönte seine Stimme über den Platz, die Schritte waren wieder zu hören, leise, leiser, verklangen.
Und sie blickte über die Brüstung zum Lande Mordor hinüber und wusste nicht, ob sie sich freuen sollte oder nicht.

Boromir erwachte. Wieder saß jemand neben ihm auf der Bettkante und hielt seine Hand. Wer mochte es diesmal sein? Sein Vater? Faramir? Aragorn?
Er schlug die Augen auf.
‑Eowyn! Er fuhr im Bett auf, in eine sitzende Position. Alles begann sich zu drehen, zu schwanken… als ob er zu viel Bier getrunken hatte! Kein wirklich schönes Gefühl.
‑Boromir!
Sanfte Hände drückten ihn sanft wieder in eine liegende Position.
‑Eowyn! Was tust du hier? Dann warst du es wirklich auf dem Schlachtfeld? Oder ist dies ein Traum?
‑Es ist kein Traum, Boromir. Ich bin da. Und ich war auf dem Schlachtfeld.
‑Warum hat mir niemand etwas erzählt? Faramir… er hat es gewusst und Eomer auch! Wieso haben sie alle nur geschwiegen?
‑Weil sie dich liebten und wussten, du würdest dich nur aufregen.
‑Aber, Eowyn! Warum? Warum nur? Wenn dir was passiert wäre…
‑Ich war wütend auf dich, so wütend…
‑In Rohan, ich erinnere mich… warum nur, warum?
‑Du sagtest, Frauen sollten nicht kämpfen!
‑Ja, und…
‑Ich bin mit dem Schwert aufgewachsen. Meine Mutter war schon lange tot und am Hofe waren vor allem nur Männer… die vielleicht nicht so unbedingt wussten, was sich für eine junge Dame gehört…
Sie lächelte ein wenig. Wie liebte er dieses Lächeln…
‑So lernte ich kämpfen und ich war so gut wie jeder Mann. Doch als es ernst wurde, als mein Bruder hinausritt um Feinde zu bekämpfen, ließ man mich nicht. Man sagte, dass sich das nicht schickt für Frauen. Und ich war wütend, so wütend und fühlte mich eingesperrt… Denn Kämpfen war das, was ich am Besten konnte und am meisten liebte… Doch man befahl mir, zu Hause zu bleiben und ich tat es, aus Achtung und Liebe zu König Theoden… Und als du dann sagtest, eine Frau sollte nicht kämpfen… ich wollte es tun, und ich wollte mein Volk verteidigen und es war das beste, es auf diese art zu tun… Für alle.
‑Für alle? Vielleicht… Ich hielt es für unter deiner Würde, kämpfen, sich mit Männerkram zu befassen…
‑Männerkram? Geht es uns nicht alle an? Wir sprechen hier vom möglichen Untergang unserer Welt, so, wie wir sie kennen, und du meinst, dass das Männerkram ist und Frauen sich nicht damit beschäftigen sollten?
Wieder blitzten ihre Augen so unheilsschwanger und zornig, doch plötzlich wurden ihre Gesichtszüge wieder weicher und ruhiger und sie sah ihn ernst an.
‑Wollen wir wieder im Streit auseinandergehen, Boromir?
Boromir betrachtete ihren ernsten Gesichtsausdruck und ihm schwante Übles. Sein Magen zog sich krampfartig zusammen. Dennoch gelang es ihm, ruhig die nächsten Worte auszusprechen:
‑Faramir hat erzählt, dass es noch eine Schlacht geben wird.
Sie sah ihn weiterhin ernst an.
‑Ja!
Er sah ihr an, dass sie wünschte, er würde die nächste Frage nicht stellen. Aber er musste es tun.
‑Wirst du mitreiten?
‑Ich werde mitreiten.
‑Ich befürchtete es…
‑Du wirst mich nicht daran hindern, Boromir. Ich verstehe, dass du nicht willst, dass ich kämpfe. Aber bin ich es meinem Volk nicht schuldig? Wenn du an meiner Stelle wärest und ich hier läge und dich anflehen würde: ‑Geh nicht! Was würdest du tun?
Er schwieg. Er würde natürlich wegreiten. Aber sie… Er wollte nicht, dass sie ging. Er liebte sie viel zu sehr.
‑Bleib! Kaum wollte das Wort über seine Lippen kommen, denn er wusste, dass sein Flehen vergeblich war. Aber trotzdem…
‑Boromir! Ein Flüstern von ihr, ebenfalls kaum zu hören.
‑Willst du es mir noch schwerer machen? Du weißt  ich werde reiten und nichts wird mich aufhalten! Wollen wir uns wieder im Zorn trennen? Du weißt…
dass wir uns vielleicht nie wieder sehen.
Sie brauchte diese Worte nicht auszusprechen.
‑Eowyn! Ich liebe dich mehr als alles andere…
‑Und auch ich liebe dich, Boromir. Das habe ich gemerkt, als ich dich sah auf dem Schlachtfeld… Und dein Vater dich wegbrachte… Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren.
‑Und nun…
‑Nun muss ich dich abermals verlassen und es bricht dir das Herz. Aber ich weiß, und du weißt  es wird jeder Kämpfer gebraucht in dieser letzten Schlacht. Und wenn wir die verlieren…
‑…ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir alle sterben.
‑Ja, Boromir.
‑Aber… wenn wir gewinnen… und du nicht mehr bist… ich fürchte – ich kann ohne dich nicht leben!
‑Boromir…
Er wusste, was er sagen musste. Es war unausweichlich. Es gab nichts, dass er sagen und tun konnte außer einem… Aber die Worte wollten nicht über seine Lippen.
‑Sag es nicht! schrie alles in ihm, aber er wusste, es musste sein.
‑Eowyn- hub er an, ein Krächzen nur, kaum verständlich…
‑Eowyn! begann er noch einmal und diesmal kam es kräftiger heraus, ‑Eowyn! hub er ein drittes Mal an und fuhr dann mit ruhiger und sicherer Stimme fort:
‑Es mag sein, dass ich mich mein Leben lang verfluchen werde…  aber ich weiß, ich kann dich nicht aufhalten und ich darf dich nicht aufhalten. So geh denn, Eowyn, und reite in die Schlacht, für die Rohirrim und für Gondor… Weil ich dich bitte, nach deiner Rückkhr meine Frau zu werden.
Sie starrte ihn überrascht an und er war mindestens ebenso überrascht. Aber er spürte, dass er genau das wollte.
Und dann lächelte sie und warf ihre Arme um ihn. Sein Kopf wollte platzen, aber das war nicht so wichtig… dafür hatte er noch Zeit genug.

Endlich lösten sie sich voneinander.
‑So reite denn, Eowyn… für dein Volk und mein Volk… und für mich!
‑Leb wohl, Boromir.
‑Leb wohl.
Und sie verschwand.

10.  Ein neuer Aufbruch

Kerzengrade saß sie im Sattel, neben Eomer. Ihr Bruder seufzte leise.
‑Ich hätte es dir nicht erlaubt. Aber ich bin egoistisch, und ich weiß es.
Sie schwieg. Sie fühlte sich absolut ruhig und friedlich, sie war im Reinen mit sich. Sie würde sterben oder auch nicht  ein sinnloser Tod würde es sicher nicht sein.
Vor ihr ritt Aragorn. Er wandte sich zu ihr um, ihre Blicke begegneten sich. Sie nickte ruhig, er nickte zurück. Dann trieb er sein Pferd an und sie ritten los.
Was sollte sie nur halten von jenem Aragorn? Er war zurückgekehrt von den Pfaden der Toten und lebte noch. Und nicht nur das, er hatte bewiesen, dass er Isildurs Erbe war… und außerdem hatte er Boromir geheilt. Warum nur war sie noch immer unzufrieden? Sie hatte ihn nicht kämpfen sehen, in der Schlacht, aber sie hatte gehört, er sei tapfer gewesen… ein würdiger König… Sie sollte sich freuen, doch trotzdem….
Es war wohl Eifersucht. Eifersucht darauf, dass sie nicht Königin werden würde… Königin von Gondor, jedenfalls. Wenn alles glatt ging, würde sie heil aus der Schlacht heimkehren, Boromir heiraten und dann… Was wäre dann? Boromir war Sohn des Truchsess. Doch worin bestand die Aufgabe des Truchsess, wenn der König wieder da war? Vielleicht würde Aragorn ihm einen unbedeutenden Außenposten geben… Irgendwo in der Pampa, weil Boromir behauptet hatte, er würde König sein.
Dann wäre Aragorn aber wirklich ein schlechter Herrscher! Es würde ja wohl noch erlaubt sein, Fehler zu machen! Oder etwa nicht?
Doch es war vermutlich trotzdem völlig sinnlos, an so etwas auch nur zu denken. Denn ritten sie nicht dem Untergang entgegen? Sie hatte sich alles noch einmal überlegt. Sie würden sich nach Mordor begeben, sich vor das schwarze Tor stellen und den dunklen Herrscher zu einer Schlacht herausfordern.
Und die Truppen von Mordor waren etwa zehn mal so stark wie ihre Truppen. Oder so. Das wirkte ein klein wenig einschüchternd. Wer hatte ihr noch erzählt, dass es Hoffnung gab?
Aber schon einmal hatte es ausgesehen, als wäre alles verloren… Man hatte ihr viel erzählt von der Schlacht bei Helms Klamm. Als alles aussichtslos zu sein drohte, war Gandalf gekommen… und diese Bäume… Und auch dieser Plan hier war von Gandalf ausgedacht worden. Vielleicht war auch jetzt irgendwo noch ein kleiner Hoffnungsschimmer verborgen.
Sie seufzte und betrachtete den Haarschopf, der vor ihr im Sattel saß. Merry hatte es sich nicht nehmen lassen, wieder mit ihr zu reiten.
‑Ich bin stolz darauf, mit Euch in der Schlacht am Pelennor geritten zu sein und ähnlich stolz wäre ich darauf, wenn Ihr mir wieder jene Ehre erweisen würdet, edle Frau! hatte er artig zu ihr gesagt. Das sein Hobbitfreund etwas von ‑Weiberheld! geflüstert hatte, hatte Merry ganz offenbar nicht beeindruckt. Pippin ritt ganz vorne mit Gandalf, aber drehte sich öfter zu ihnen um.
Der beneidete Merry ja wohl nicht etwa um den Platz in ihrem Sattel, oder? Sie war aber auch überhaupt keine gute Gesellschaft.
Allerdings waren alle ziemlich still. Selbst Eomer hatte bisher nur ein einziges Mal den Mund aufgemacht. Vielleicht war es doch das Ende…

‑Mein Herr, das geht nicht! Ihr dürft nicht aufstehen! Euer Kopf…
‑Ihr könnt mir glauben  mein Kopf ist mein kleinstes Problem! Boromir hatte herrisch klingen wollen und befehlsgewohnt… Aber es misslang kläglich.
Trotzdem schwankte er weiter durch die Kammer. Endlich hatte er die Wand erreicht. Kurze Pause, abstützen, tief durchatmen  weiter ging es. Den Gang entlang und hinaus…
Jemand ergriff seinen Arm stütze ihn. Der Heiler hatte wohl begriffen, dass Widerstand zwecklos war und half ihm hinaus in der Garten, auf die große Terrasse, von der aus man den gesamten Pelennor im Blick hatte… und die unteren Ringe von Minas Tirith.
Die waren angefüllt mit wuselnden Menschen und Pferden. Wie klein sie doch von hier oben aussahen…
Und dann  Trompetenschall.
Schmerzen durchfuhren seinen Kopf, schlimmer als je zuvor. Der Heiler hatte alle Hände voll zu tun, Boromir aufrecht zu halten…
Aber er blickte immernoch hinunter. Jetzt öffnete sich das Tor und die Krieger kamen heraus. Ganz vorne eine weiße Gestalt, blendend hell, dahinter dunklere Gestalten, die alle gleich aussahen von hier oben…
Doch er wusste, wer ganz vorne dabei war.
König Theoden, Aragorn, Faramir, sein armer Bruder, Imrahil von Dol Amroth… und Eomer und Eowyn… Ach, Eowyn…
Jemand erschien neben ihm.
‑Boromir! Mein Sohn, du sollst doch überhaupt nicht hier sein! Maregund! Und du nennst dich Heiler?
‑Vater  selbst wenn er mich gefesselt hätte, hätte ich alles darangesetzt herzukommen. Und wenn er mich gehindert hätte, hätte ich ihn getötet. Dazu reicht meine Kraft noch immer.
Das war zwar beides stark übertrieben, aber es machte den erforderlichen Eindruck. Denethor murmelte nur etwas kaum hörbares in seinen kaum vorhandenen Bart und sie standen beide da und betrachteten das abrückende Heer.
Noch lange Zeit konnte man sie dort oben sehen, zwei winzige Gestalten, bis das ganze Heer aus ihrer Blickweite verschwunden war.

‑Dort oben stehen Denethor und Boromir!
Es war der Elb, der das gerufen hatte. Alle drehten sich um und sahen noch ein letztes mal zurück auf die weiße Stadt, vielleicht zum letzten Mal in ihrem Leben.
Dort oben war der weiße Turm Ecthelions, und der freie Platz mit dem Baum, den man von hier unten nicht sehen konnte… Waren da tatsächlich zwei kleine Gestalten zu erkennen? Sie war sich nicht sicher. Was musste dieser Elb für Augen haben…
Boromir dort oben…
‑Aber er müsste doch im Bett liegen! rief sie plötzlich aus. ‑Das ist doch sicher nicht gut für ihn!
‑Boromir war schon immer ein Sturkopf!
Erstaunt blickte sie sich um. Hinter ihr war Faramir, der sie aufmerksam betrachtete.
‑Mein Bruder… Selbst wenn er schwer verletzt war, musste man ihn ans Bett fesseln, damit er sich nicht übernommen hat. Es wundert mich nicht im geringsten, wenn er wirklich dort oben steht und auf uns hinunterblickt!
Angestrengt blickte sie wieder hinauf… drei winzige Pünktchen… Sollte das Denethor und Boromir sein? Wer war dann der dritte?
‑Leb wohl, Boromir! Leb wohl, Vater. Faramirs Worte waren leise, aber sie konnte sie deutlich hören.
‑Leb wohl, Boromir! murmelte auch sie leise. Dann sah sie wieder nach vorn, auf die Mähne ihres Pferdes, auf den Haarschopf des Hobbits…

Faramir hatte zu ihr aufgeschlossen und ritt jetzt zu ihrer Rechten. Meist sah er nach vorne, aber manchmal streifte er sie mit einem raschen Blick. Merry war sehr unruhig, er rutschte dauernd im Sattel auf und ab.
‑Fürchtet ihr Euch, Merry? erkundigte sie sich daher bei dem Hobbit.
‑Ich? Nein! Ich bin nur nervös! rief Merry aus, aber es klang nicht sehr überzeugend.
‑Dann seid Ihr hier vermutlich der einzige! seufzte Faramir.
Merry drehte den Kopf und sah den Mann zu seiner Rechten erstaunt an.
‑Aber… ich dachte…
‑Alle haben Angst vor einer Schlacht. Nenne mir jemanden der keine Angst hat!
‑Aragorn!
‑Vielleicht. Aragorn. Aber dann ist er kein Mensch. Jeder fürchtet sich vor etwas, von dem er nicht weiß, wie es ausgehen wird. Und auch wenn wir alle auf diesem Weg gehen und ruhig und gefasst erscheinen, sind unserer Herzen mit Bangen erfüllt.
Der Hobbit saß jetzt ruhig da, ohne zu zappeln.
‑Ich habe Angst! gestand er schließlich ein.
‑Es ist nichts Schlechtes, Angst zu haben. Nur der Narr fürchtet sich nicht. Man darf sich ihr nur nicht vollständig hingeben. Wenn man kämpft, Merry, und keine Furcht hat, dass man sterben könnte… Glaubst du nicht, dass man dann unvorsichtig wäre, weil man sich für unbesiegbar hält? hörte Eowyn sich sagen.
Seit wann gab sie zu, dass es gut war, wenn man Angst hatte? Ausgerechnet sie, die Angst immer als ein Zeichen von Schwäche angesehen hatte? Wie sehr hatte sie sich doch verändert.
‑Was könnt Ihr mir von Boromir erzählen? fragte sie plötzlich Faramir. Die Abruptheit des Themawechsels schien ihn zu überraschen, denn er warf ihr einen prüfenden Blick zu. Aber antwortete brav, nichtsdestotrotz.
‑Boromir… Nun, hohe Frau, das Meiste wisst ihr doch schon. Er ist ein aufrichtiger Mann, edel und gut, manchmal etwas hitzköpfig und stur…

‑Wie geht es dir, mein Sohn?
‑Furchtbar! Ich meine, ich will mich nicht beklagen, an der Pflege ist nichts auszusetzen und mittlerweile darf ich sogar das Bett verlassen… Aber es macht mich wahnsinnig! Egal, was ich tun will  ständig heißt es : Du musst dich noch schonen! Du kannst das noch nicht!
Argh! Ein stechender Schmerz fuhr ihm durch den Kopf, so heftig, dass er beinahe umgefallen wäre.
‑Boromir!
Sofort war die Hand seines Vaters auf seiner Schulter, zwei graue Augen musterten ihn besorgt.
‑Nun, du musst dich wirklich noch schonen, mein Sohn! erklärte er bestimmt.
‑Mir reicht’s, Vater! ich komm mir vor, als wäre ich kein Mensch mehr! Ich darf ein wenig spazierengehen und ein wenig herumliegen und essen und sonst nichts! Ich lass mir nicht von so einem bisschen Kopfwunde vorschreiben, was ich zu tun und nicht zu tun habe!
‑Ich kann dich gut verstehen, Sohn. Aber wenn du dich nicht schonst, wirst du dein ganzes Leben lang Kopfschmerzen haben!
‑Ach was, ganzes Leben… So lang kann es schließlich nicht mehr dauern, oder?
‑Nein, wohl nicht!
Da war irgendwas in seines Vaters Stimme, was Boromir stutzig machte. Es war eine Gewissheit in den Worten seines Vaters…
Ihre Blicke trafen sich und sein Vater schien genau zu spüren, was er dachte…
‑Vater?
‑Es entsprechen vielleicht manche Gerüchte der Wahrheit, dass ich besser informiert bin als andere… sagte Sein Vater gedehnt…
‑Ich werde es dir mitteilen, wenn du kräftiger bist. Momentan ist es noch zu früh…
‑Vater! Es reicht mir wirklich! Am liebsten würde ich… Wenn es eh alles zu spät ist, dann ist es egal, ob ich es heute oder morgen erfahre… und ich wüsste es lieber heute als morgen, weil es morgen vielleicht schon gar nicht mehr geben wird!
Zwei graue Augen musterten ihn lange. Schließlich nichte sein Vater.
‑Dann komm, Sohn, ich werde es dir zeigen!

Um was um alles in der Welt konnte es sich nur handeln? Boromir zermarterte sich den Kopf, aber ihm wollte nichts einfallen. Die Kopfschmerzen begannen, schlimmer zu werden… Aber egal jetzt, er würde sich durch nicht und niemandem davon abbringen lassen, seinem Vater zu folgen und hinter das wohl bestgehütetste Geheimnis von Minas Tirith zu kommen.
Schon oft hatten er und Faramir darüber gerätselt, woher sein Vater so viele Dinge im Voraus wusste… sie hatten sich ein geheimes Botennetz überlegt, das Vater mit Nachrichten versorgte…. Vielleicht Vögel? Er hatte schon viel von Vögeln gehört, die für andere spionierten…. zum Beispiel die Crebrain für Saruman… warum sollten nicht auch Vögel für seinen Vater spionieren?
Die Idee war natürlich von Faramir gekommen… Aber selbst er, der sonderbare Geschichten zu allen Zeiten verschlungen hatte, war im Tiefsten seines Herzens von seiner eigenen Geschichte nicht überzeugt gewesen. man konnte sich Vater eben nicht als Vogelbändiger oder wie immer man es nennen wollte, vorstellen.

Sie waren scheinbar angekommen. Sie befanden sich jetzt im höchsten Raum des Turmes von Ecthelion. Er war kreisrund und hatte eine elegante Ausstattung. Die war Boromir immer wie der eigentliche Thronsaal vorgekommen, mit all den edlen Stoffen und Möbelstücken aus aller Herren Länder.  Doch jetzt erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit.
Etwas, dass sein Vater in den Händen hielt. Es schien rund zu sein, und recht schwer, und war in grünen Samt eingewickelt. Vorsichtig legte sein Vaterdie Kugel auf den Tisch und nahm das Samttuch ab.
Eine wahrhaft merkwürdige Kugel. Aus einem Material, dass er nicht beschreiben konnte, von einer Farbe, die er nicht beschreiben konnte… Eine Kugel halt. Aber eine Kugel mit einer seltsamen Ausstrahlung.
‑Dies, mein Sohn, ist ein Palantir. Ein sehender Stein!
‑Aha! stellte Boromir fest. Ein sehender Stein. Natürlich.
‑Und was kann man damit sehen, Vater?
‑Erinnerst du dich nicht mehr an die alten Geschichten? Oder haben die Kopfschmerzen deinen Geist verwirrt?
‑Die Kopfschmerzen sind fast weg! Eine Lüge. ‑Und Geschichten sind etwas für alte Frauen und kleine Kinder.
‑Vielleicht, doch bedenke, dass eine alte Geschichte, erzählt von einer Frau, dein Leben gerettet hat. Die alte Ioreth mit ihren Worten: ‑Die Hände eines Königs sind heilende Hände. Und diese Geschichte über die Palantiri ist ebenso. Eine alte Sage, will man meinen, doch mehr als das. Und hätte ich alter Mann so wie du gedacht über die alten Geschichten, dann hätte ich niemals diesen sehenden Stein gefunden. Faramir hätte es gewusst. Er liebte all die alten Geschichten…
‑Gut, Vater! gab Boromir zur Antwort.
Er war ein bisschen beschämt, aber das brauchte sein Vater ja nicht wissen.
‑Aber was sieht man damit?
‑Man kann vieles sehen. Doch ein Palantir gehorcht keinem. Er lässt dich nur das sehen, was er will. Früher, so hieß es, gab es Menschen, die selbst bestimmen konnten, was sie sehen wollten… Aber das ist, fürchte ich, dann doch nur eine Sage.
‑Lass mich hineinsehen, Vater!
‑Du bist viel zu schwach dafür!
‑Das ist überhaupt nicht wahr! Wieso hast du ihn mir gezeigt, wenn ich deiner Meinung nach nichts damit anfangen kann? Lass mich sehen!
Und Boromir stellte sich dicht neben seinen Vater und blickte in den Stein. Erst sah er nichts, doch dann… Kleine schwarze Flecken, die wild durcheinanderwuselten.
‑Vater! Was ist das? Seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Sein Kopf.
‑Boromir! hörte er seinen Vater noch rufen und dann war alles schwarz.

Er erwachte auf einer Liege, wenigstens noch immer im Turmzimmer Ecthelions. Er setzte sich auf und sah zum Tisch herüber. Die Kugel war wieder mit grünem Samt zugedeckt.
‑Du solltest liegen bleiben.
Tatsächlich fühlte er sich noch immer etwas benebelt.
‑Du hast recht. Ich… murmelte Boromir und ließ sich wieder zurückgleiten.
‑Es war ein Fehler, dich herzubringen. Ich weiß es jetzt. Aber ich hielt die Zeit für gekommen… Die Arbeiten am Tor kommen voran. Nur wenig Zeit bleibt noch, sie auszubessern. Die Schlacht vor dem schwarzen Tor dauert noch nicht lange an, aber der Ausgang ist gewiss. Es war eine Narrheit, diese Schlacht. Ich sagte es, aber niemand hat meinen Worten glauben wollen. Allerdings kann ich es verstehen. Das letzte Aufbäumen der Menschen… lieber glanzvoll sterben als so, wie es uns bevorsteht! Das Ende einer geliebten Heimat und Stadt ansehen zu müssen, wie sich alles in Flammen verzehrt, in Rauch auflöst, der Dunkelheit anheim fällt…. Auch ich begehrte, in der Schlacht teilnehmen zu können…
Aber es ist nicht die Aufgabe des Truchsess und seinem Sohn. Nein, ihre Aufgabe besteht darin, die Stadt zu verteidigen, wenn alles andere zu Ende gegangen ist.

Sie spürte die Blicke der anderen auf sich. Die von Theoden und Aragorn und Eomer… Von jedem. Alle wussten, dass sie tapfer gekämpft hatte… Dass sie würdig war, in diesen Kampf zu ziehen. Doch als einzige Frau in einem ganzen Lager von Männern fiel sie dennoch auf wie ein bunter Hund.
Sie hatte sich durchgesetzt, gegen Theodens Willen, gegen Boromirs Willen…. Und alles erreicht, um das sie gebeten hatte.
Doch sie war trotzdem nicht glücklich. Wie konnte man das aber auch sein mit einer solchen Bedrohung vor sich!
Beinahe wünschte sie sich, sie hätte Boromirs Flehen nachgegeben.
‑Bleib! hatte er geflüstert. Ach, Boromir… Warum war sie nicht geblieben? Selbst wenn es keine Hoffnung mehr gab… Sie hätten zusammen sterben können!
Doch was wäre gewesen, wenn er gesund und sie verletzt gewesen wäre? Sie hätte noch so sehr flehen können  er wäre geritten. Für sein Land. Weil er es hätte tun müssen. Und so, wie es für ihn Pflicht gewesen wäre, war es auch für sie Pflicht zu kämpfen, alles zu tun für ihr Volk und das von Gondor… und für Boromir.
Und wenn Mittelerde fallen sollte, war sowieso alles vergebens. Und wenn Mittelerde nicht fallen sollte aber sie schon… Dann würde sie Boromir nie wieder sehen! Niemals wieder… Außer vielleicht am Rande des Scheidemeeres… Oder dahinter… Vielleicht… Dunkel ist das Leben, ist der Tod.

11.  Eine neue Schlacht

Erneut eine Schlacht. Diesmal war sie etwas mehr darauf vorbereitet, auf die Reihen der Orks, auf den Gestank, auf den Lärm, die Schreie… Neben ihrem Bruder kämpfte sie und immer wieder warf er ihr seltsame Blicke zu… Sie wusste, dass Theoden und auch Eomer alles daransetzten, sie in dieser Schlacht zu schützen. Das war natürlich ein wenig hinderlich, weil sie somit vielleicht auch mal eine Schwert  oder Pfeilspitze übersehen konnten, die für sie selbst galt…
Auf den nächsten Ork! Ja, kämpfen fürs Vaterland, für Gondor, für Boromir… Eins sein mit seinem Schwert… Irgendjemand sang. Einer der Reiter der Rohirrim. Ein Schlachtgesang, etwas über Mut, Ehre und Tapferkeit… in all diesem Gewühl, dass einem den Atem raubte. Sie war kein richtiger Krieger, so kam es ihr langsam vor. Sie konnte keine Freude am Kampf finden. Es war nur extrem ekelerregend.
Eine Schwertklinge schlitzte ihr den Ärmel auf.
‑Pass auf, Eowyn! mahnte sie sich selbst. ‑Sei konzentriert! Denk nicht: Sterben fürs Vaterland, sondern: Leben fürs Vaterland! Reiß dich zusammen!
Die nächsten… Momente? Minuten? Stunden? war sie eins mit dem Schwert. Lang genug hatte sie schließlich kämpfen gelernt, jede Bewegung, jeder Hieb war automatisiert und wurde sicher ausgeführt. Sie dachte nicht mehr an den Kampf und das ungewisse Ende, sondern nur noch an den nächsten Ork vor ihr. Und den nächsten. Und den Nächsten.
Bis plötzlich… Aragorn in ihrem Blickfeld erschien. Er hieb auf einen Troll ein, wie es aussah, doch dem gelang es, ihn zu fällen, ihn zu Boden zu werfen… Ein Hieb und es würde keinen König von Gondor mehr geben. Oder aber ein anderer würde König sein. Boromir… Sie brauchte einfach nichts zu tun. Einfach hier stehenbleiben, warten, es geschehen lassen. Wer würde es wissen? Viele würden im Krieg sterben… Auf einen kam es nicht an, selbst wenn er König war.
Eine Klinge durchbohrte den Troll, der stürzte und begrub Aragorn unter sich, doch dieser konnte noch einen Blick in die Augen seines Retters werfen…
‑Pass auf! brüllte von irgendwoher eine Stimme, sie fuhr herum… Ein Ork stand vor ihr, das Schwert gehoben zum tödlichen Hieb. Es ging weiter.
Wie lange dauerte die Schlacht? Sie hätte es nicht zu sagen vermocht. Wie lange dauerte ein Augenblick? Kämpfen, kämpfen, immer weiter kämpfen… Und dann  Geschrei. Ein schrecklicher Schrei, der alle Hoffnung raubte, alles in Dunkel tauchte… Nazgul.
Kämpfen war vergebens, dies waren die neuen Herren dieser Erde, Nazgul, Furcht, Finsternis.
Um sie herum lagen die Krieger am Boden, hielten sich die Ohren zu, wimmerten wie kleine Kinder. Sie stand noch. Warum? Wozu? Warum legte sie sich nicht auch auf den Boden? Weil Faramir da schon lag. Und sie ihn beschützen musste. Und weil sie sich nicht dazu durchringen konnte, sich hinzuwerfen, in den Matsch, in das Blut…
Also stand sie. Orks drangen vor, trampelten auf den am Boden liegenden Männern herum, die sich langsam wieder aufrappelten… Und weiterkämpften… Bis zum nächsten Schrei. Denn ihre Hände zitterten, ihre Gesichter war eine Fratze der Furcht…
Nur noch diese Kreaturen, keine Krieger mehr da. Die waren alle bei dem Kreischen der Nazgul gestorben.
Hoffnungslos, alles. Sie würde Boromir nie wiedersehen… Und Faramir war verloren… Und Theoden und Rohan und Gondor…  Ein neuer Schrei der Nazgul. Auch diesmal blieb sie stehen, aber ihr Schwert fiel ihr aus der Hand… Sie war wie gelähmt. Ihr Blick suchte das schwarze Tor, blieb daran haften, konnte sich nicht mehr davon lösen… Alles war verloren. Der nächste Ork würde sie niederstrecken….
Ihr Blick fiel auf einen Mann am Boden. Auf einen Mann, der bei der Nazgulattacke zu Boden gefallen und nicht wieder aufgestanden war. Sein Gesicht war voller Blut, man konnte seine Gesichtszüge nicht erkennen. Dafür aber den Brustpanzer, den ein Pfeil durchdrungen hatte. Diesen Brustpanzer kannte ein jeder der Rohirrim und auch Eowyn kannte ihn gut.
‑Eomer!
Alles krampfte sich in ihr zusammen. Eomer lag am Boden. Niedergestreckt von einem gefiederten Pfeil…
‑Eomer! rief sie erneut.
‑Eomer ist gefallen!
Einer der Rohirrim in der Nähe nahm den Ruf auf.
‑Eomer ist gefallen!
‑Tod! rief Eowyn. ‑Möge der Tod uns alle holen! Doch unsere Feinde nehmen wir mit!
Und sie packte ihr Schwert fester und stürzte sich auf die Feinde.
‑Tod! brüllte es aus tausend Kehlen der Rohirrim. Keine Nazgulattacke konnte sie mehr aufhalten, nichts und niemand konnte sich ihnen mehr entgegenstellen. Der Mann, der einmal hatte König werden sollen, der Mann, den sie alle liebten, war gefallen und sie würden ihn bitter rächen, wenn es das letzte war, was sie tun würden.
Eowyn spürte  diese Männer würden ihr jetzt folgen, wohin immer sie ging, in den Tod, an das Ende der Welt und darüber hinaus.
Eine so grimmige Wut hatte sie gepackt, dass sogar die Orks, die ihre Feinde schon am Boden gewähnt hatten, stutzen bei diesem neuerlichen Anblick.

Erneut gellte ein Nazgul – Schrei durch die Luft.
Doch was konnten sie schon tun, diese Leichenschänder und Aasgeier, was man den Rohirrim noch nicht angetan hatte?
‑Hinweg mit Euch, in den dunklen Abgrund, aus dem ihr gekrochen seid! schleuderte sie zu den schwarzen Schatten empor. ‑Verschwindet! Denn euer Tun ist vorüber, ihr habt keine Macht mehr über uns!
Ein Schatten senkte sich hernieder. Der größte von allen Schatten. Sie hatte ihn schon einmal aus nächster Nähe gesehen. Gandalf hatte ihn scheinbar nicht vernichten können beim letzten Mal. Denn er war wieder da, wieder ganz nahe und sicher wieder auf das gleiche Übel aus wie bei der Schlacht auf den Pelennorfeldern. Doch diesmal war Eowyn nicht allein mit dem Hobbit und Gandalf. Ein Pfeil  und Speerhagel traf das neue Reittier des schwarzen Heermeisters, das somit seine Karriere als Reittier des obersten Nazgul auch schon wieder beendet hatte. Mit einem Seufzer, der durch Mark und Bein ging, klappte es auf dem Schlachtfeld zusammen. Der Nazgul rutschte nicht sonderlich elegant zu Boden und stand plötzlich vor ihr.
Der Tod ihres Bruders hatte sie einen Moment in ihrem Schmerz so betäubt, dass sie sogar den Schrecknissen dieses Gegners hatte trotzen können, genauso wie ihre Männer, aber als er jetzt so nah vor ihr stand, packte sie wieder dumpfe Verzweiflung. Dies war das Ende, alles war verloren. Ihr Bruder war tot, und er war nicht der einzige. Unzählige Rohirrim würden nicht in ihre Heimat zurückkehren, und vielleicht war dieses Schicksal auch Eowyn, Eomunds Tochter beschieden.
Der Nazgul kam auf sie zu. Alles in ihr schrie nach Flucht.
Lauf weg, du Närrin! Er wird dich vernichten! Aber ein kleiner, aber umso stärkerer und beharrlicherer Teil wisperte beständig:
‑So lass ihn kommen! Dies ist das Ende! Dann ist es wenigstens vorbei.
‑Du bist ein Narr! dröhnte die Stimme des schwarzen Heermeisters durch ihren Kopf. Jetzt wusste sie etwa, wie sich Boromir mit seinen Kopfschmerzen fühlen musste.
‑Du bist ein Narr! brüllte der Nazgul wieder mit seiner furchtbaren Stimme.
‑Du hättest fliehen sollen, solange noch Zeit war! Nun bist du verloren! Kein Mann vermag es, mich zu töten!
Plötzlich vernahmen sie einen Schrei von der Seite. Da stand ein kleines Kerlchen und lief auf sie beide zu. Gekleidet war er ganz in der Tracht der Mark… Und da kam noch ein Kerlchen herbeigelaufen, in der Tracht der Burgwache…
‑Merry, bist du wahnsinnig! Er wird dich töten! rief der letztere verzweifelt aus.
‑Dann sei es so! brüllte der andere zurück. Und rannte weiter auf sie zu.
Nun, wenn kein Mann den Hexenmeister töten konnte, dann vielleicht zwei Hobbits? überlegte sich Eowyn mit dem winzigen Teil ihres Gehirns, das nicht vor Schrecken oder Verzweiflung wie gelähmt war.
Da erschien wieder eine weiße Gestalt am Rande ihres Blickfeldes, doch diese Gestalt griff diesmal nicht ein, blieb nur abwartend stehen…
‑Wir müssen ihr helfen! brüllte eine Stimme. Faramir?
‑Nein! brüllte die weiße Gestalt zurück. ‑Nur sie allein kann es tun!
Kein Mann konnte den Hexenmeister töten…
‑Ein Mann vielleicht nicht! überlegte Eowyn laut. ‑aber eine Frau?
Der Hexenmeister, der bisher die Hobbits angestarrt hatte, wandte sich jetzt wieder ihr zu. Er hob sein Schwert, um die Gefahr unmittelbar vor sich zu beseitigen…

Eowyn hob ebenfalls ihr Schwert  eine reflexartige Bewegung, da ihr Körper ihrem Großhirn unerreichbar fern schien –  und ihre Klinge hätte die seine getroffen, wenn die nicht in diesem Moment dem schwarzen Nazgul aus der Hand gefallen wäre vor Schreck und Schmerzen. Denn die Hobbits waren herangekommen und hatten sich genau diesen Moment ausgesucht, um mit ihren kleinen Schwertern auf ihn einzustechen. Eowyns Klinge führte einen Bogen aus und, weil ja kein anderer Widerstand mehr vorhanden war, traf sie den Nazgul elegant zwischen Mantelkragen und jener merkwürdigen Krone, die ihr schon bei der Schlacht auf dem Pelennor aufgefallen war.
Und dann  Schmerzen. Starke Schmerzen, wie sie sie im Leben noch nicht gefühlt hatte. Ihr Arm schien Feuer gefangen zu haben, er brannte, und dennoch kroch eine Eiseskälte über sie hinweg, über ihren Arm in ihr Herz…
Sie sank in sich zusammen, fiel zu Boden und schlug hart auf…
Das letzte was sie noch über sich sah war ein geflügelter Schatten, aber kein Nazgul, und das letzte, was sie hörte, war eine Stimme, die da brüllte:
‑Die Adler kommen!

12   Noch nicht das Ende

Jemand beugte sich über sie. Was war passiert? Eine Stimme rief sie…
„Eowyn!“
Zwei ernste, graue Augen blickten in ihre, die ihr bekannt vorkamen…
„Aragorn!“ hauchte sie.
„Ihr habt mein Leben gerettet, jetzt hab ich Eures gerettet“, stellte er ruhig fest. Wusste er von all den geheimen Wünschen, die einst ihr Herz gequält hatten? Vor Tausenden von Jahren, so schien es?
„Verzeiht mir!“
Kaum wollte es über ihre Lippen, doch es musste sein… Bevor man starb, war es besser, noch allen Kummer wiedergutzumachen.
„Ihr werdet nicht sterben!“
Konnte er Gedanken lesen?
„Die Schlacht…“ fiel ihr wieder ein.
„Sie ist vorüber“, antwortete Aragorn ruhig.
„Die Halblinge…“
„Sie brauchen nur ein wenig Ruhe, dann sind sie so wie einst!“
„Erstaunliche Kerlchen. Mutig und tapfer…“
Sie war müde, so müde… Eomer! Wie er dagelegen war, ohne sich zu bewegen… So bleich und kalt…
„Ihr habt seinen Tod gerächt. Es war ein Nazgulpfeil, der ihn getroffen hat. Und gegen dieses Gift gibt es kein Gegenmittel!“
„Eomer!“ Sie merkte, wie Tränen über ihr Gesicht liefen, Ihr Bruder, den sie nie wiedersehen würde…
„Was ist mit dem König?“ fragte sie. Kaum wagte sie es, diese Frage zu stellen, aus Angst vor der Antwort. Bitte, nicht auch das noch… Bitte…
„König Theoden lebt!“ hörte sie Aragorn leise sagen. „Und jetzt schlaft.“

Sie träumte.
„Eowyn!“ Vor ihr stand Eomer und er lächelte sie an. Sein Brustpanzer war heil, er sah aus wie immer, jugendlich, fröhlich.
„Eomer!“ Sie eilte auf ihn zu, wollte ihn umarmen… Doch er hob abwehrend die Hand.
„Ich muss gehen, meine Schwester. Es ist Zeit für mich!“
„Aber doch nicht jetzt schon!“ Wieder spürte sie Tränen auf den Wagen, sie, die sonst nie weinte…
„Nun, es scheint schon jetzt für mich an der Zeit zu sein! Aber ich fühle mich nicht traurig, Eowyn!
Ich ziehe ein in die Halle unserer Väter, denn auch wenn mein Leben kurz war, gab es doch genug Taten zu vollbringen, die für ein ganzes Leben ausreichen! Und auch du wirst eines Tages hier bei mir sitzen, wenn deine Zeit gekommen ist… neben mir, wenn du es willst. Doch dieser Tag ist noch fern.“
„Eomer!“
Ich muss fort, Schwester! Siehst du das Licht? Hörst du nicht die Stimmen, den Gesang? Lebe wohl!“
„Eomer!“
Doch es war zu spät, seine Gestalt verblasste…
Sie riss die Augen auf. Jemand war in der Nähe ihres Lagers.
„Wo ist König Theoden?“ rief sie aus.
„Er schläft“, antwortete eine ruhige Stimme, die sie kannte…
„Faramir! Ich muss zu ihm!“
„Ihr seid viel zu schwach! Bleibt liegen und… He!“
Ihre Gedanken überschlugen sich. Theoden! Sie musste sofort zu ihm! Er durfte sie nicht auch noch verlassen!  Er musste… er durfte nicht…
Sie hatte sich bereits erhoben, suchte eine Wand, um sich abzustützen… Doch dies war keine Wand, nur ein trügerisches Gebilde aus Stoffbahnen…
Faramir hatte ihren Arm ergriffen und redete irgend welches sinn – und nutzloses Zeug und auf sie ein.
Ein seltsames Geräusch, und dann stand noch jemand im Zelt.
„Was ist hier los?“
„Aragorn! Ich muss sofort zum König!“
Er blickte sie wieder auf diese analytische Art an, die sie überhaupt nicht mochte.
„Ich muss sofort zu ihm!“
Scheinbar klang sie hysterisch genug, denn statt ihr zu befehlen, sich wieder hinzulegen, seufzte er nur:
„Tja, Faramir, was soll man da machen?“
Dann ergriff er ihren linken Arm und begleitete sie aus dem Zelt. Faramir hatte ihre Rechte ergriffen und so stützen und führten sie sie hinaus.
Es war nicht weit, nur das Nachbarzelt, doch ihr schien es endlos zu dauern – teils aus Ungeduld, teils wegen ihrer nicht vorhandenen körperlichen Fitness. Fast schon bedauerte sie es, je den Wunsch verspürt zu haben, aufzustehen, doch da war sie plötzlich an seinem Lager.
Seine Augen waren geschlossen und er wirkte so ruhig und friedlich… Viel zu ruhig und friedlich.
„Ist er…?“ Ihre Augen bohrten sich verzweifelt in die von Aragorn.
„Nein!“ antwortete er ruhig. „Aber niemand weiß…“
Im Geiste vollendete sie die Worte: Wie lange er noch lebt.
„Eowyn!“ Eine Stimme, leise, kaum zu hören…
„Mein König!“
Theoden hatte die Augen geöffnet und lächelte sie an.
Sie ergriff seine Hand und klammerte sich an ihm fest.
Bitte, bitte, stirb nicht! Ich brauche dich doch!
Er lächelte immer noch.
„Noch ist es nicht Zeit für mich, Eowyn. Noch nicht…“
„Eomer…“ Es brach ihr fast das Herz, dieses Wort auszusprechen, und sofort bereute sie es, es getan zu haben…
„Ich habe von ihm geträumt!“ sagte Theoden kaum hörbar. Er hatte aufgehört, zu lächeln, aber es lag eine Sanftheit in seiner Stimme, die sie vorher noch nie bei ihm wahrgenommen hatte.
„Eomer Schwestersohn… Viel hat er geleistet, in dieser Schlacht und davor… Viel, was wert ist besungen zu werden! Er ist jetzt in unserer Väter Halle und wahrlich groß ist unserer Verlust. Aber er sagte, wir sollten nicht zu traurig sein… Und über den Tod das Leben nicht vergessen!“
Nicht das Leben vergessen… Dabei schien das Leben so fern zu sein…
„Kommt, ich bringe Euch zurück!“ ertönte Aragorns Stimme von weitem und sie fühlte seine Hände und ließ sich einfach fallen.

Langsam ging es aufwärts. Oder eigentlich abwärts, wieder zurück nach Minas Tirith. Man hatte provisorische Tragen gebaut, die von zwei Pferden getragen wurden, und auf einer solchen lag Eowyn, gut eingepackt in einen Haufen Decken und ließ sich zurückbringen nach Minas Tirith oder dorthin, wo immer es dem König beliebte. Nicht weit weg von ihr befand sich Theoden, auf einer ähnlichen Trage, doch im Gegensatz zu ihr verschlief er den größten Teil der Reise.
Die zwei Hobbits saßen schon wieder zu Pferde. Diesmal aber bei Imrahil von Dol Amroth und   einem von der Burgwache namens Beregond im Sattel. Warum nicht zum Beispiel bei Aragorn oder Gandalf, wie es ihnen vielleicht zugestanden hätte, hatte sie nicht ganz begriffen. Angeblich wegen zwei weiteren Hobbits, die ebenfalls großes in der Schlacht geleistet hatten und jetzt diese Ehrenplätze einnahmen… Oder so.  Auf jeden Fall hörte sie von vorne fröhliches Hobbitgelächter.
Hobbits.
Sie selbst fühlte sich noch immer alles andere als fit. Sie hasste es, allen zur Last zu fallen und wäre selber geritten, wenn man sie nur gelassen hätte.
Doch da hatten drei Leute Einspruch erhoben – Faramir, Aragorn… und schließlich auch Theoden. Und seinem König musste man gehorchen. Als ließ sie sich herumschleppen und war mittlerweile garnicht mehr sooo böse darum. Auch wenn es ihr jedesmal einen Stich versetzte, wenn sie das Lachen der Hobbits hörte.
Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn man sie reiten gelassen hätte. Denn so war es zwar nicht überaus bequem, aber doch so weit möglich, seine Schmerzen zu vergessen und vor sich hinzudösen… und dann machten sich finstere Gedanken in ihr breit.
„Eomer! Ich weiß, du wolltest nicht, dass ich mitreite… Und du hast dich die gesamte Zeit um mich gesorgt… Was, wenn gerade das deinen Tod bedeutet hat? Der Pfeil eines Nazgul hat dich getroffen… Vielleicht hättest du es rechtzeitig bemerkt, wenn meine Gegenwart dich nicht abgelenkt hätte… Eomer! Wir waren doch immer zusammen! Ich habe dich so sehr geliebt! Und jetzt bist du von uns gegangen! Noch so jung! Warum nur, warum? Schon jetzt in der Halle der Väter…“
„Eowyn!“ Ein Pferd schritt langsam neben ihrer Bahre her. Faramir. Er sah sehr besorgt auf sie herunter.
„Wie fühlt Ihr Euch?“
„Gut, danke. Und Ihr?“
„Ich kann nicht klagen!“
Einen Moment lang ritten sie schweigend nebeneinander her. Ihre Gedanken drifteten wieder ab. Eomer…
„Ihr denkt an Euren Bruder!“
Faramirs Stimme durchschnitt ihre Gedanken. Konnte er sie nicht allein lassen?
„So ist es!“
„Es klingt vielleicht etwas anmaßend von mir… Aber vielleicht kann ich ein bisschen erahnen, was Ihr gerade empfindet. Denn auch ich hielt meinen Bruder für tot – eine gesamte Schlacht lang. Er lebt ja noch, Eru sei dank, aber in jener Schlacht glaubte ich ihn dennoch verloren… Ich machte mir große Vorwürfe. Ich überlegte mir, ob es vielleicht meine Schuld war, dass er gestorben war. Vielleicht hätte ich damals Vater überreden sollen, mich nach Bruchtal zu schicken… Dann wäre ich gestorben… denn ich hielt mich für so viel unwürdiger als ihn, den edlen Boromir, den älteren, vernünftigeren Bruder…“
„Das dürft Ihr nicht sagen!“ platzte es aus Eowyn heraus. Ihre Worte überraschten sie. Aber sie meinte es genauso.
„Nun, ich fühlte es schon so, damals… Schließlich hatte man es mir oft genug an den Kopf geworfen…“ murmelte Faramir kaum hörbar, aber sie hatte seine Worte trotzdem noch vernommen.
„Faramir! Ihr wisst, ich liebe Euren Bruder. Aber dennoch würde es mir nie einfallen, zu sagen, Ihr wäret schlechter als er und hättet den Tod besser auf Euch genommen! Auch wenn Ihr vielleicht in dieser Schlacht weniger mutig und tapfer gekämpft hättet wie Euer Bruder, hat es doch seine Richtigkeit, dass Ihr überlebt habt! Jeder muss seinen eigenen Weg gehen, und vielleicht war dieser ihm vorbestimmt… und man hätte ihn nicht ändern können!“
„Vielleicht!“ gab Faramir zu. „Aber dennoch habe ich mich schuldig gefühlt. Ich dachte, vielleicht hätte ich etwas tun können, was ich bis dahin habe…. Irgend etwas, was sein Leben gerettet hätte…“
Eowyn schwieg. Sie fühlte sich zu aufgewühlt.
„Ihr denkt ebenfalls so, nicht wahr?“ Faramirs Frage durchdrang abermals ihr Gedankenchaos.
„Ja. Wenn ich nicht mitgeritten wäre… hätte Eomer keine Angst um mich haben müssen, wäre konzentrierter gewesen, nicht so abgelenkt, hätte keine Angst um mich haben müssen…“
„Ja, vielleicht… Aber Ihr müsst bedenken, Eowyn… Ihr habt eine Heldentat vollbracht wie noch niemand zuvor. Ihr habt einen Nazgul getötet, den Obersten der Nazgul sogar! Und wenn Ihr ihn nicht getötet hättet… Er ist zu Euch auf den Boden geflogen, um Euch zu töten, weil Ihr die größte Gefahr wart, die er in unserem kleinen Häuflein ausmachen konnte. Ihr ließet Euch selbst von ihm nicht erschrecken und seit auch nicht zurückgewichen, als er zu Euch kam.“
„Aber ich hatte nur deswegen keine heillose Furcht, weil mein Herz voller Schmerz und Sorge um Eomer war…“
„Das mag sein. Aber wenn Ihr nicht in dieser Schlacht gekämpft hätte, hätte vielleicht Eomer die Aufmerksamkeit des Nazgul erregt… und es ist ja geweissagt worden, dass kein Mann ihn töten kann!“
Da hatte Faramir natürlich auch wieder recht.
„Es war sowieso Wahnsinn, im Nachhinein betrachtet. Wir wenige gegen das riesige Heer der Feinde… Ihr habt es vermutlich nicht wahrgenommen, aber in dem Moment, in dem der Nazgul Euch angriff, haben einen Moment alle Kampfhandlungen gestoppt. Ihr befandet Euch an jenem tiefste Punkt zwischen dem schwarzen Tor und den kleinen Hügeln davor, und wart gut sichtbar… und all die Orks und Menschen hielten für einen Moment im Kampf inne und haben Euch und den Nazgul und natürlich die Hobbits beobachtet. Gandalf selbst auch. Ich konnte damals nicht verstehen, warum er Euch nicht beistehen wollte… Aber jetzt weiß ich, warum. Und ich kann ihn jetzt gut verstehen.“
„Ihr wolltet mir helfen. Habt Dank!“
Irrte sie sich oder wurde Faramir leicht rot? Vermutlich irrte sie sich.
„Was ist eigentlich nach der Sache mit dem Nazgul passiert? Ich hab nicht mehr allzu viel mitbekommen…“
„Ich glaube, die Feinde hatten alle Furcht, weil es Euch gelungen war, ihren obersten Heermeister zu töten. Sie hätten nicht im Traum damit gerechnet! Sie kämpften mit verminderter Kraft weiter und es war jetzt ein Leichtes, sie alle einzuschüchtern! Und dann kamen die Adler und haben den Nazgul schwer zugesetzt, die sowieso schon geschwächt waren durch den Verlust ihres Hauptmanns…
Und dann hat plötzlich die Erde gebebt wegen Frodo, weil er den Ring vernichtet hat… Aber diese Geschichte erzählt besser jemand anders, ich habe bisher nur Bruchstücke davon gehört!“
„Ja… Aber nicht jetzt!“
„Oh, verzeiht… ich weiß, dass Ihr noch immer erschöpft seid. Ich bitte, mein Gerede zu entschuldigen…“
„Oh… nicht doch! Ich glaube, Ihr habt mir geholfen… Aber jetzt muss ich ein wenig ruhen…“
„Natürlich!“ Er lächelte ein wenig, hob grüßend die Hand und ritt wieder nach vorne.

„Ich werde nie wieder reiten können, Schwestertochter.“
„Was?“ Eowyn starrte König Theoden entsetzt an. „Aber… Das kann nicht sein! nein Das kann doch nicht sein!“
„In den Geschichten überleben die Helden und Könige entweder unversehrt – oder sie sterben ruhmreich. Nicht in meinem Fall. Vielleicht, weil ich kein Held bin…“
„Aber… Ihr dürft so etwas nicht sagen! Ihr habt die Rohirrim in drei siegreiche Schlachten geführt…“
„Und das qualifiziert mich zum Helden? Ich weiß nicht. Nein, ich bin ein Krüppel, werde mich den Rest meines Lebens auf einer Bahre fortbewegen und nie wieder meine Heimat wiedersehen.“
„Aber… Man könnte dich so transportieren wie jetzt!“
„Auf einer Bahre? Willst du mir das wirklich antun? Wie quälend langsam würde es vorwärts gehen… Nein, Schwestertochter. Ich bin müde, ich bin alt, ich will nur noch in Ruhe sterben. Hier habe ich Freunde, Denethor ist hier und Aragorn… Ich bin nicht allein! Es wird Zeit, dass in Rohan ein frischerer Wind weht und nicht mehr meine alten Knochen in einem Thronsessel vor sich hinmodern… Es klingt hart, aber es ist die Wahrheit.
Niemand der Rohirrim muss mehr seinen alten, gebrechlichen König pflegen, sie halten ihn so in Erinnerung, wie sie ihn zuletzt gesehen haben… Und nicht als Wrack, nicht als die Ruine, die ich jetzt bin.“
„Aber… wenn du nicht zurückkehrst… wer wird jetzt König werden? Elfwine ist ein guter Feldherr und auch Erkenbrand und sie werden sicher auch gute Könige abgeben… Aber…“
Sie wusste nicht weiter.
„Hama hat damals gesagt, bevor wir zu Helms Klamm aufgebrochen sind, dass das Volk Vertrauen zum Hause Eorl hat.“
„Aber, Ihr wisst doch, Eomer…“ Ihr versagte die Stimme. Noch immer konnte sie nicht an ihn denken, ohne dass ihr Tränen in die Augen schossen.
„Ich denke nicht an Eomer.“
Plötzlich ahnte sie, worauf er hinauswollte.
„Aber das geht nicht! Das ist unmöglich!“
„Warum? DU hast bewiesen, dass du so tapfer und mutig und stark bist wie ein Mann, und dir gebührt in dieser letzten Schlacht die größte Ehre. Das Volk wird dich anerkennen.“
„Aber… Ich muss doch Euch pflegen!“
„Wollt Ihr euer Leben lang mein Kindermädchen spielen? Vielleicht leb ich doch länger, als man denken mag, und du bist getrennt von deiner Heimat, die du sehr ver,missen wirst… ich weiß es, Eowyn. Die Berge, die weite Steppe, Edoras… Dein Platz ist bei deinem Volk. Du wolltest doch immer Königin werden, Eowyn! Oh, meine Knochen… Ich werde soo schnell müde… ich werde mich noch etwas ausruhen, Schwestertochter. Verzeih einem alten Mann.“
„Nein, verzeiht, Eurer schlechten Pflegerin, die zu wenig auf Euch geachtet hat…“ flüsterte sie… aber er hörte sie nicht mehr, denn er war schon eingeschlafen.
Sie stand von seinem Lager auf, verließ das Zelt und wanderte ruhelos im Lager herum. Ein rastloses Gespenst zwischen all den Zelten und schlafenden Kriegern.
Ich wollte immer Königin werden! Das stimmt! Aber Königin von Gondor! An der Seite von Boromir! Ach, Boromir… Wir sind beide schon verlorene Gestalten! Denn jetzt ist zwar die Schlacht gewonnen, aber wir können nicht zusammen kommen… niemals wird Rohan einen König aus Gondor auf seinem Thron dulden! Vermutlich werde ich Elfwine heiraten oder Erkenbrand… Beide tapfere Männer, gewiss… Und sie werden mich ehren, wie es einer Königin geziemt… Aber wer auch immer mein Gemahl wird, er wird wissen, dass mein Herz ihm nicht gehört… Alle werden es wissen… Und wenn ich einen tapferen Krieger heirate, werden sie erwarten, dass ich zurückstecke, mich nur noch den Kindern widme und den häuslichen Angelegenheiten. Und mein Gemahl wird in den Krieg reiten und ich werde daheim bleiben und das Land in der Abwesenheit regieren, nur um ihm Platz zu machen, wenn er nach Hause kommt…
Aber das ist vermutlich mein Schicksal, wo auch immer ich mich befinde… Denn nichts anderes hätte mich erwartet als Königin von Gondor… außer das ich mit Boromir zusammen gewesen wäre und nicht mit irgendeinem anderen wohl würdigen, dem aber mein Herz niemals gehören wird…
Königin sein… nicht mehr in Schlachten reiten, keinen Ruhm und Ehre mehr gewinnen, aber danach steht mir der Sinn schon längst nicht mehr.
Statt dessen Kinder hüten, Festessen regeln, immer freundlich sein… Man wird mir aufwarten, jeden meiner Schritte verfolgen, um mir jeden noch so kleinen Wunsch zu erfüllen, auch wenn ich ihn noch nicht ausgesprochen habe, wie hier in diesem Lager, ich werde niemals allein sein – und dennoch allein sein, weil der Mann meines Herzens unerreichbar fern ist…

Sie hatten hier dauerhaftes Quartier bezogen, bis zu jenem Tag wenigstens, an dem der neue König von Gondor und Arnor in seine Stadt einziehen würde.
Plötzlich ertönten Rufe von überall.
„Boromir!“
„Boromir kommt!“
Ihr erster Gedanke war: Hinaus! Sie war gerade dabeigewesen, ihre Haare schön ordentlich hochzustecken, aber das war jetzt nicht mehr so wichtig! Hinaus zu Boromir! Ihm in die Arme fallen…  Sie hatte die Zeltbahn schon in der Hand, die den Weg nach draußen bedeutete.
Hinaus zu Boromir, ihm in die Arme fallen… vermutlich in Tränen ausbrechen…
und das alles vor etwa zweitausend Augenpaaren.
Das gab den Ausschlag.  Nein, danke. Wie sollte sie es ihm nur beibringen?
„Hör zu, Boromir, es tut mir leid, aber ich bin jetzt Königin von Rohan und kann dich nicht mehr heiraten.“
Sie sah sein Gesicht vor sich, wie er sie ansehen würde, sein Gesicht völlig fassungslos… Und er war sicher noch nicht richtig auf den Beinen. Faramir hatte es heute Morgen prophezeit.
„Boromir kommt ganz bestimmt ins Lager. Selbst wenn beide Beine gebrochen wären und er kriechen müsste – er wird kommen!“

Boromir hatte jetzt ausreichend genug Aragorn, Faramir, Gandalf, Legolas, Gimli und noch ein paar Dutzend andere begrüßt. Die meisten hatten nichts anderes zu tun und ihn umarmt. Manchmal fast ein kleines wenig zu fest, wohl… Auf jeden Fall war ihm jetzt entsetzlich schwindelig, und seine Kopfschmerzen waren so stark wie lange nicht mehr. Zwar kein Vergleich zu dem, als er in den Palantir geblickt hatte… beim ersten wie beim letzten Mal… Aber dennoch waren sie viel zu stark, als dass man sie einfach ignorieren könnte.
Doch das war alles vernachlässigbar im Gegensatz zu einer Sache: Eowyn war nirgendwo zu erblicken.
„Wo ist sie?“ fragte er Faramir. Sein Bruder betrachtete ihn kurz nachdenklich, blickte sich dann selber suchend um und kam irgendwann zu dem Schluss:
„Also, hier ist sie nicht.“
„Wo kann sie dann sein?“
„Vielleicht in ihrem Zelt. Ich bring dich hin!“
„Dieses ist jenes, welches…?“ erkundigte sich Boromir schließlich, als sie bei einem prächtigen Blauen endlich halt machten.
„Ja. Du entschuldigst, ich muss noch was besprechen!“ sagte Faramir und eilte hastig davon.
Ein Spalt öffnete sich und Eowyn sah hinaus.
„Eowyn!“ flüsterte Boromir. Sie öffnete noch ein Stück weiter und er trat ein.
Sie sah nicht so aus, wie er es sich vorgestellt hatte. Ihre Haare hingen ihr wirr um den Kopf, sie war sehr bleich und ihre Augen waren gerötet. Aber er selbst sah sicher auch nicht wirklich taufrisch aus. Diese Ansicht schien auch durchaus richtig zu sein, denn kaum war Eowyn seiner richtig angesichtig geworden, rief sie auch schon aus:
„Um Erus Willen, du siehst fürchterlich aus! Setz dich, los, setz dich schon! Wenn du dich nicht endlich setzt, fällst du noch um!“
Mit dieser Vermutung hatte sie nicht unrecht. Aber weil er nicht wollte, dass sie es mitbekam, setzte er sich gehorsam auf das Bett. Alles drehte sich, die Kopfschmerzen schienen schlimmer denn je, also völlig normaler Boromir – nach – der – Schlacht – am – Pelennor – Zustand.
Sie war ganz nahe. Ihre roten Augen waren nicht weit von seinen entfernt.
„Ich hab das von Eomer gehört. es tut mir schrecklich leid“, flüsterte er, eigentlich nur, um etwas zu sagen.
„Ich weiß. Er war dein Freund“, antwortete sie ebenso leise.
Schweigen. Völlig hilflos starrten sie einander an, beide hatten so lang aufeinander gewartet und jetzt… Er liebte sie, sie liebte ihn, warum war alles nur so schwierig? Warum konnten zwei erwachsene Menschen nicht miteinander reden?
„Boromir. Ich muss dir was sagen. Weil Eomer gestorben ist, werde ich Königin von Rohan“, brach schließlich sie das Schweigen. Sie wirkte ganz ruhig und ernst und gefasst.
Schön. Rohan war ein schönes Land. Und Eowyn würde eine würdige Königin sein, stolz und schön und mutig und würdig…
„Boromir! Sag doch was!“
„Nun, das klingt doch alles gut und schön…“ Er stockte.
„Du wirst Königin?“
„Ja, Boromir.“
„Aber… aber… dann musst du wieder fort gehen?“
„Ja, Boromir.“
„Und dann… dann wirst du für immer in Rohan bleiben… Und…“
Die Erkenntnis rieselte langsam in sein Gehirn.
„Du wirst als gute Königin einen Rohirrim heiraten, damit alles in der Familie bleibt.“
„Ja. Boromir!“ Ihre Augen waren so nah an seinen. Sie klang so gefasst! Wenn sie doch irgendetwas anderes sagen würde! Und nicht dieses ewige Ja, Boromir!

Wenn er sie doch nur nicht so ansehen würde! So völlig betäubt! Wenn er doch nur… Ja, was sollte er denn tun? Was wollte sie, dass er tat? Er war verletzt, vermutlich völlig erschöpft, weil er sich hoffnungslos überanstrengt hatte…
Und sie hatte nichts besseres zu tun als ihm gleich alle schlechten Nachrichten auf einmal an den Kopf zu werfen.
„Leg dich hin, Boromir. Bei Eru, es tut mir leid.“
Er war so schrecklich bleich.
„Es musste wohl so sein, Eowyn. Das letzte Vermächtnis von Sauron. Ach, warum musste Eomer sterben! Er war so ein edler mensch, so ein guter Mensch…“
„Und er wäre König von Rohan geworden und alles wäre gut.“
„Oder auch nicht. Ich weiß nicht, was Aragorn mit mir vorhat. Wir waren ja vielleicht nicht immer so ein Herz und eine Seele…“
„Was aber zum Teil auch an mir liegt! Oh Boromir, ich war so eifersüchtig! Er König und diese Elbin Königin und ich…“
„Gattin von Boromir ohne Land.“
Lange saßen sie noch in jenem Zelt und unterhielten sich.

13.  Von sehenden Steinen

Aragorn blickte Boromir in die Augen. Graue, ernste, königliche Augen.
„Mein König, ich lege mein Schicksal in eure Hände. Gebietet über mich!“ sagte Boromir ruhig, aber von seiner äußeren Ruhe war kaum etwas zu bemerken. Seine Kopfschmerzen waren so schlimm wie eh und je und er musste gestehen, dass er selbst nicht wusste, wozu er noch groß fähig war. Kämpfen? Vielleicht. Aber die Schlachten der Zukunft würden anders geführt werden als in der Vergangenheit. Es war kein Kämpfen mehr ums nackte Überleben, sondern nur noch Kämpfen wegen politischem Kalkül und Geschick.
Und ob diese Kopfschmerzen ihn jemals verlassen würden? Er bezweifelte es mittlerweile.
Auch Aragorn schien zu überlegen, denn er zögerte ausgesprochen lange mit seiner Antwort. Faramir hatte er zum Fürsten von Ithilien gemacht. Und was würde er mit ihm tun?
„Boromir – ich habe mich entschlossen, Euch die Aufsicht über den Orthanc anzuvertrauen“, sagte der König schließlich förmlich.
„Was?“ Hatte er richtig verstanden?
„Über den – Orthanc?“
„Ja. Gewiss ist das keine angemessene Aufgabe für den Sohn des Truchsessen und gerne hätte ich Euch ein wertvolleres Amt übertragen -“
Wieder eine Pause. war da nicht ein hilfesuchendes Aufblitzen in Aragorns Augen? Wusste er nicht, wie er ihm erklären sollte, warum er ihn auf das Abstellgleis schob? Vermutlich war er immer noch verärgert, weil Boromir erzählt hatte, er würde König sein. Und wegen Frodo.
Aber welches Amt konnte er Boromir schon übertragen, außer jenem, auf das er sowieso nie zu hoffen gewagt hatte?
Vielleicht hätte er ihm noch die Oberaufsicht über das ehemalige Arnor verschaffen können. Aber dort oben war es so schrecklich kalt… Und außerdem war das das Gebiet der Waldläufer… und diese Nordlichter würden sicher keinen südlichen Gondoreser als Herrscher oder Verwalter oder sonst was haben wollen. Nein, wenn Boromir recht überlegte trotz Kopfschmerzen, war er mit dem Orthanc mehr als reichlich belohnt worden.  Scheinbar hatte Aragorn doch nicht allzuviele Einwände gegen ihn, denn die Aufgabe war wichtiger, als man vielleicht glauben mochte. Er würde ein Auge auf das Tor von Rohan haben, Reisenden Nachtlager geben, Kontakt haben zu Minas Tirith, dem Norden – und Rohan… Er würde Eowyn sicher öfter sehen… obwohl er freilich nicht sagen konnte, ob das eher gut oder schlecht war. Eowyn – seit zwei Monaten hatte er sie nicht mehr gesehen. Ab und zu kamen Boten, die von ihrem Wirken berichteten… Und voller Stolz von ihrer Königin sprachen. Kein Zweifel möglich, Die Leute von Rohan akzeptierten ihre Königin vollkommen.
Ihm wurde bewusst, dass Aragorn ihn noch immer ansah und nach wie vor nichts sagte… er hörte leise Stimmen im Hintergrund…
Sie waren schließlich nicht allein, es war genauer gesagt so ziemlich der gesamte Hofstaat versammelt… Und allen war klar: Boromir sollte eine Antwort geben. Boromir sollte seinem König endlich aus diesem Dilemma helfen und beweisen, dass er ein ehrenwerter Mann war, der mit einer Niederlage fertig werden konnte.
„Mein König -“ hub er deswegen an,
„Mein König, ich bin mir nicht sicher, ob ich in der Lage bin, ein wertvolles Amt auszuführen. Wie Ihr wisst, steht es mit meiner Gesundheit nicht zum Besten…“ weil ich deinen Rat und den von sämtliches Heilern ausgeschlagen habe und in der Schlacht vom Pelennor mitgeritten bin und weil ich viel zu früh aufgestanden bin und mich überanstrengt habe und weil ich in den Palantir geblickt habe…
„Und ich hätte nie auf ein so ehrenvolles Amt gehofft.“ vollendete er seine Antwort.
Aragorn neigte leicht den Kopf, es war gut. Boromir verneigte sich und wollte sich schon zurückziehen, da fiel ihm noch etwas ein.
Er wusste, dass sein Vater es ihm niemals verzeihen würde, aber es musste sein. Dieses war er seinem König noch schuldig.
„Mein König, ich hätte Euch später noch gern einmal gesprochen, allerdings nicht ganz so … öffentlich.“
Erkannte er da ein misstrauisches Funkeln in Aragorn Augen? Der König mochte sich wohl sagen : Was will er denn jetzt noch? Habe ich ihm nicht Ehre genug erwiesen?
Aber Elessar nickte und erwiderte:
„Nach Einbruch der Nacht kommt in meine Privatgemächer.“
Und Boromir verneigte sich abermals und schritt davon.

„Also, worüber willst du noch sprechen?“ erkundigte sich Aragorn. Er sah müde aus. Das Regieren war wohl doch nicht so einfach, wie man es sich immer vorstellte.
Boromir legte das in grünen Samt eingeschlagene Bündel behutsam auf ein Tischchen.
Aragorn maß es mit scharfen Blick, dann erschien ein herrlich erstaunter Gesichtsausdruck auf seinem Gesicht, er sperrte quasi Mund und Nase auf und starrte Boromir völlig verblüfft an.
„Das ist doch wohl nicht…“ Er verstummte.
„Mein Vater hat ihn vor einigen Jahren gefunden. Hier in Minas Tirith. Er hat ihm mir nach der Schlacht zu treuen Händen gegeben… Und ich möchte sie dem zurückgeben, der darauf einen rechtmäßigen Anspruch hat.“
Aragorn tat schnell zu dem Tischchen, so schnell, dass er Boromir umgerannt hätte, hätte dieser nicht schnell einen Satz zur Seite gemacht.
Sein Vater würde ihn umbringen. Er konnte ihn schon schreien hören. „Was hast du getan? Bist du wahnsinnig?“ Aber Aragorn würde es sowieso merken.. Diese Steine waren doch angeblich alle miteinander verbunden. Außerdem bedauerte er den Verlust nicht unbedingt. Er hatte ihm nur noch mehr Kopfschmerzen bereitet als er sowieso schon hatte – und er erinnerte sich nur zu gut an all die grausamen Dinge, die er darin gesehen hatte. Eowyn, wie sie reglos am Boden lag… Das Heer vor dem Morannon, umgeben von einer vielfachen Übermacht der Feinde… Der Nazgulfürst, wie er vor Eowyn stand… Wie sie zu Boden fiel… Jedes Mal, wenn er in diesen Stein geblickt hatte, waren die selben Bilder erschienen. Vermutlich, weil er sie für tot gehalten hatte… und sich selbst quälen wollte, weil er sie hatte gehen lassen und nicht richtig versucht hatte, sie aufzuhalten… und weil er einfach sich nicht von ihrem Anblick lösen konnte. Seit jenem Tag hatte er nicht mehr hineingesehen, aber er bezweifelte nicht, dass die Bilder ihn noch immer heimsuchen würden. Oder durch noch andere, Schlimmere ersetzt würden.
Aragorn hatte währenddessen den Samt herruntergerissen und starrte fasziniert den Stein an.
„Daher wusste Denethor also Dinge schon im voraus! Diese Gerüchte existierten überall in den Heerlagern. Und deswegen hat er sich in der Schlacht auf dem Pelennor plötzlich ins Kampfgetümmel gestürzt! Er wollte dich retten! Und Sauron hat ihm vermutlich diese Bilder nicht vorenthalten, weil er hoffte, du würdest sterben und Denethor dadurch wahnsinnig oder sonst was!“
Darüber hatte Boromir bisher noch nicht nachgedacht. Aber vielleicht hatte er ja recht… Ja, das konnte durchaus die Motive seines Vaters erklären. Hatte nicht Faramir auch davon gesprochen?
Aragorn streichelte zärtlich den Palantir und dann betrachtete er wieder Boromir mit gewohntem, analytischem Blick. Er schien sich etwas beruhigt zu haben und sah wieder ganz königlich und unnahbar aus.
„Boromir, weißt du, was du da tust? Wolltest du ihn nicht lieber behalten? Du weißt, was man damit alles machen kannst!“
„Ich weiß es. Aber ich habe kein Recht auf den Palantir. Und kein Bedürfnis, ihn einzusetzen. Ich denke, man kann ihn anderswo besser gebrauchen.“
„Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Diesen Stein werde ich an mich nehmen, Boromir, und ich danke dir, das du ihn mir gegeben hast. Aber ich werde dir etwas wiedergeben.“
Mit diesen Worten verließ Aragorn das große, prächtige Gemach für ein paar Augenblicke und kam dann mit einem ähnlichen Bündel wieder, wie Boromir es getragen hatte.
„Dies ist der Palantir des Orthancs. Durch unverhofften Zufall besitzt Gondor jetzt wieder zwei der sehenden Steine… aber was soll ich mit zwei? Und wo bewahre ich den anderen am Besten auf? Ich denke mir, dass dieser Stein vermutlich da am Besten aufgehoben ist, wo er schon immer aufbewahrt wurde. Und zwar im Orthanc. Vielleicht, wenn es wieder ein Reich von Arnor geben sollte, werde ich ihn zurückfordern… Aber nicht eher. Nimm also diesen Stein an dich und hüte ihn gut für mich.“
Damit schien die Audienz beendet. Boromir nahm also Aragorn sein Bündel ab und verließ den Raum. alles hätte er sich träumen lassen, aber dies nicht.

„Herr Boromir!“ Ein Diener wagte es, ihm den Weg zu verstellen. Aber warum auch nicht. Schließlich hatte er ja nichts mehr zu sagen…
„Verzeiht meine Forschheit, aber ich habe Euch schon drei mal gerufen und…“
„Schon gut!“ winkte Boromir an. „Ist gut. Was ist denn?“
„König Theoden wünscht, mit Euch zu sprechen.“
„Jetzt?“
„Möglichst bald.“
„Ein bisschen kann er hoffentlich noch warten?“
„Gewiss…“
„Ich komme gleich.“
Das hatte ihm noch gefehlt. Theoden von Rohan war er ganz bewusst ausgewichen, seit er in Minas Tirith weilte. Er wollte nicht mit ihm reden. Er hörte schon jene Worte:
„Ich weiß, Junge, das ist hart für dich… Aber es gibt noch andere Frauen auf der Welt und du wirst es überleben.“
Aber jetzt hatte er wohl keine andere Wahl mehr. Wenn ein König rief, musste man kommen… auch wenn es sich um einen nicht mehr amtierenden König handelte.
Seufzend betrat er seine Kammer und legte den Palantir auf ein ähnliches Tischchen wie bei Aragorn.
„Boromir! Was hast du mit dem Palantir gemacht?“ tönte eine Stimme durch den Raum. Denethor trat aus einer dunklen Ecke hervor. Seine Augen sprühten Feuer.
„Was hast du getan?“
„Ich habe ihn Aragorn gegeben“, antwortete Boromir fest.
„Ich habe dass Gefühl, dass dir deine Verletzung wirklich stark zusetzt. Wo ist der Boromir, der auszog nach Bruchtal?“
„Der ist gestorben. Vermutlich bei der Schlacht von Helms Klamm.“
„Dieses Gefühl habe ich auch.“
„Bist du jetzt verbittert, Vater? Hätte ich Aragorn herausfordern sollen, versuchen sollen, ihn zu vertreiben?“
„Nein, Sohn. Du hast recht getan. Und Aragorn hat dir aufgrund seiner Königswürde das Leben gerettet, das kann nicht bezweifelt werden. Aber es ist trotzdem Narretei gewesen, nur daran zu denken, Aragorn den Stein wiederzugeben! Nur gut, dass du dich noch eines Besseren besonnen hast! Denn das dort auf dem Tisch ist er unzweifelbar, der sehende Stein.“
„Du irrst dich nicht und dennoch irrst du, Vater. Auf jenem Tisch liegt ein Palantir, aber nicht der, der in Minas Tirith lag. Dies hier ist der Stein aus dem Orthanc!“
„Was!“ Wieder wurde ein Tuch von einem sehenden Stein gerissen, derselbe erstaunte Gesichtsausdruck erschien auf Denethors Gesicht, den auch Aragorn gehabt hatte…
„Es ist kaum ein Unterschied festzustellen!“ bestätigte sein Vater dann endlich das, was er sah.
„Aber er ist es tatsächlich nicht… Hat Aragorn ihn dir gegeben, weil er zum Orthanc gehört?“
„Du hast deine Scharfsinnigkeit nicht verloren, Vater.“
„Vielleicht… Aber auch ich werde alt. Ich kann mit Gandalf und Theoden bald einen Klub gründen und wir prügeln dann mit Stöcken auf weiße Bälle ein und lassen sie weit über den Pelennor fliegen…“
„Vater? Was redest du?“
„Ach, da  war nur mal so etwas im Palantir zu sehen… Ist ja auch egal… Jedenfalls werde ich alt. Aber ich habe ja zwei liebende Söhne, von denen der eine bald fortgehen wird…“
„Da fällt mir ein, Vater, König Theoden wünscht mich zu sprechen…“
„Jetzt?“
„Ja!“
„Na, dann eile dich! Beweg deine Beine, wenn du es noch kannst, Sohn! Einen König lässt man nicht warten!“

„Ihr habt mich sprechen wollen!“ sagte Boromir ruhig nach der üblichen Verneigung. König Theoden lag auf einer Liege, eingehüllt in viele Decken und seufzte tief.
„Du bist mir schließlich lange genug ausgewichen, Boromir. Mir ist nur leider der Grund verborgen geblieben. Nährt Ihr einen heimlichen Zorn gegen mich? Hab keine Angst, offen zu sprechen. Ich werde es überleben.“
„Mein König… Ihr wisst, wie es um mein Herz bestellt ist. Ich liebe Eowyn, Eure Schwestertochter…“ Er konnte nicht mehr weitersprechen. es ging einfach nicht. Theoden runzelte die Brauen.
„Sehe ich ihr so ähnlich, dass mein Anblick Euch schmerzlich an den Ihren erinnert? Ist es dass?!“ knurrte er. Dann wurde seine Miene etwas weicher.
„Ich kann verstehen, dass einige Monate eine lange Zeit ist, und für Liebende zieht sie sich endlos. Aber Ihr seht sie doch jetzt bald wieder!“
„Ja… Aber ich bin mich nicht sicher, ob es nicht besser wäre, wenn ich sie nicht mehr sehen würde.“
„Junge, was redest du da? Warum willst du sie nicht mehr sehen?“
„Ihr Anblick schmerzt mich zu sehr.“
„Das ist natürlich ein Argument… Nur verstehe ich es nicht! Was ist los mit euch beiden?“
„Mein König!“
„Vergiss doch endlich den König! Ich bin kein König mehr!“
„Mein König! Ich entschuldige eure Worte und schiebe sie auf Eure Verletzung, aber ich kann doch Eowyn jetzt nicht mehr heiraten. Und wir haben es beide so sehr ersehnt….“
„Warum kannst du sie nicht heiraten?“
„Aber… mein König! Was würde das Volk von Rohan dazu sagen, wenn sein König aus Gondor stammt?“
„Es würde jubeln! Jedenfalls bei einem gewissen Mann aus Gondor namens Boromir. Sie haben nicht vergessen, was du in Helms Klamm geleistet hat.“
„Aber ich bin doch ein Fremder. Wünschen die Rohirrim wirklich fremdes Blut in ihren Adern?“
„Es ist doch schon jede Menge fremdes Blut enthalten! Schließlich kam meine Großmutter aus Lossarnach. Außerdem hatten wir noch nie eine Königin – und da sind kleine Änderungen durchaus erlaubt.“
„Aber haben die Rohirrim nicht was dagegen, wenn plötzlich ein Fremder über sie herrscht?“
„Welcher Fremder? Herrschen wird schließlich Eowyn. Du hast doch heute selber gesagt, dass du für ein großes Amt nicht mehr geeignet bist.
Außerdem wirst du genug mit dem Orthanc am Hals haben, da kannst du dich nicht auch noch um Rohan kümmern.“
„Ach ja, der Orthanc… Und Aragorn ist damit einverstanden?“
„Aragorn wünscht euch beiden Glück und hofft, ihr werdet Euch gut um Rohan kümmern. Und um den Orthanc.“

Zwei Wochen später ritt Boromir los.

Epilog

„Eowyn!“ Boromir rannte die Treppen hinunter. „Endlich bist du wieder da!“
Beinahe hätte er die letzte Stufe verfehlt und wäre gestolpert, aber eben nur beinahe. Schon war er unten und lief auf seine Frau zu, die gerade vom Pferd stieg und umarmte sie fest.
„Eowyn! Ich bin so froh, dass du wieder da bist!“
„Ich auch.“
„Ich war so in Sorge!“
„Die Ostlinge haben uns härter zugesetzt als erwartet.“
„Ich hab Ängste ausgestanden – das kannst du dir nicht vorstellen! Manchmal hab ich mir überlegt, einfach hinterherzureiten…“
„Ich habe es befürchtet und deswegen war meine Sorge um dich sicher ebenso groß wie deine um mich. Es wäre dein Tod gewesen, Boromir.“
„Vermutlich. Aber diese Ungewissheit, darauf zu warten, ob du wiederkommst…“
„Ich kann dich gut verstehen. Aber wir hatten Erfolg. Die Grenzen Gondors sind wieder einmal gesichert… bis nächstes Jahr, vermutlich.“
Sie lächelte. Und bei diesem Lächeln konnte man zu leicht vergessen, dass sie eine Kriegerkönigin war, die anstelle ihres unfähigen Gatten in den Krieg hinauszog und eigenhändig Feinde erschlug und mittlerweile einen solchen Ruf hatte, dass die Feinde schon bei ihrem bloßen Anblick das Weite suchten.
„Ich weiß, dass es für dich schrecklich sein muss, Boromir. Du fühlst dich… übergangen. Du willst auch deinen Mut auf dem Schlachtfeld beweisen.“
„Ich weiß, dass ich nicht mehr fähig bin, in die Schlacht zu reiten, Eowyn. Ich fühle mich wie ein alter Mann…“
„Für einen alten Mann hast du aber einiges auf die Beine gestellt!“ erwiderte sie und sah sich um. Während ihrer dreimonatigen Abwesenheit hatte sich wirklich einiges geändert. Boromir hatte neue Stallungen hochziehen lassen, die Gästehäuser waren erweitert worden und die meisten der Berwerksschächte von Isengart waren nicht mehr zu sehen. Alles war mit viel Holz und Steinen zugedeckt worden und von den klaffenden Spalten war nicht mehr viel zu sehen.
„Was ist denn jetzt mit den Bergwerksschächten passiert? Hast du die zuschütten lassen?“ erkundigte sie sich auch prompt.
„Das wäre unmöglich gewesen. Da hätte man das halbe Nebelgebirge reinwerfen können und es wären immer noch Hohlräume vorhanden. Nein. ich habe mir überlegt, Gimli einzuladen und ihn zu bitten, sich die Sache einmal anzusehen. Vielleicht kann man ja doch noch das eine oder andere damit anfangen.“
„Dann werden wir bald eine Zwergeninvasion hier haben.“
„Anzunehmen!“
„Aber du hast wirklich einiges geleistet, Boromir! Unglaublich! Ich glaube, du hast eine Begabung dafür!“
„Ich weiß nicht…“
Am liebsten hätte er schon längst den ganzen Bausums hingeschmissen. Er musste zurückstecken und seine Frau musste kämpfen, weil er nicht dazu in der Lage war… ihr Arm lag federleicht auf seinem. Ihre Augen blickten mitfühlend in die seinen. Sie wusste natürlich, was in ihm vorging… Nur zu gut. Aber da konnte man nichts ändern. Die Kopfschmerzen waren penetrant wie eh und je und da würde sich vermutlich auch nie etwas daran ändern.
„Ich hab mich übrigens gut mit Faramir unterhalten!“
„Faramir! Wie geht es ihm?  Wie geht’s Ithilien? Hat er auch mitgekämpft?“ erkundigte sich Boromir zugleich, den Themenwechsel dankbar annehmend.
„Nein, natürlich nicht. Es war auch nicht nötig. Er hat Truppen geschickt und das war es. Ich hab ihn aber auf der Rückreise besucht und er lässt dich natürlich schön grüßen. Aber hör mal, was hältst du davon, wenn ich erstmal mein Pferd versorge und wir dann alles in Ruhe im Turmzimmer besprechen?“
„Ich weiß nicht… machen wir lieber einen Spaziergang“, schlug Boromir vor.
Wenn er ganz ehrlich mit sich selbst war, musste er zugeben, dass ihm der Orthanc immer noch nicht geheuer war.  Die Magie des Ringes hatte ihn damals völlig verrückt gemacht und auch hier im Orthanc war noch genug Magie vorhanden, um diesen Ort unheimlich genug zu machen. Vielleicht hatte ihm Aragorn den Orthanc nicht ganz ohne Hintergedanken übergeben und es war seine Art, Boromir eins auszuwischen. Aber daran wollte er jetzt lieber nicht denken, er folgte lieber seiner Frau.
Eowyn führte ihr Pferd in eines der neuen Stallgebäude im Ringwall, die Boromir hatte bauen lassen.
„Warum kümmerst du dich eigentlich immer selbst um dieses Tier? Auch wenn es der Sohn Schattenfells ist – wir haben doch genug Diener hier!“ murmelte Boromir schließlich missmutig, nachdem er eine ganze Zeit lang zugesehen hatte, wie sie das Tier abrieb und umsorgte. Gut, es war ja ganz hübsch, auch für ein Pferd, und so… Aber er fand den ganzen Firlefanz doch etwas übertrieben.
„Du vergisst, dass ich aus Rohan komme, mein lieber Boromir! Und dass wir unsere Pferde lieben wie unsere Kinder!“
„Ich fürchte, da sind mir eigene Kinder aber schon lieber als solche…“
„Nun, Boromir, vielleicht dauert es ja auch nicht mehr allzu lange und dann… Aber mal was anderes. Faramir gedenkt sich zu verheiraten!“
„Faramir? Aber – wen denn?“
„Eine der Töchter des Imrahil von Dol Amroth.“
„Das ist eine gute Partie. Und Imrahil und Faramir verstehen sich ausgezeichnet. Möge die Ehe glücklich werden!“
„Ja… das hoffe ich auch. Faramir schickt dir außer seinen besten Grüßen übrigens noch etwas anderes!“
„Eine Einladung zu seiner Hochzeit!“
„Das auch. Aber noch etwas anderes!“
„Was mag das sein?“
„Ein Kraut, das in Ithilien wächst. Er meint, es sei gut gegen Kopfschmerzen, die nicht weichen wollen!“
„Was? Wirklich? Her damit!“
„Die alte Frau aus den Häusern der Heilung hat davon erzählt und es in höchsten Tönen gelobt, aber bedauert, dass es nur in Ithilien wächst…“
„Na, das war ja für Faramir dann nicht allzu schwierig, es zu besorgen.“
„Und Theoden wohnt auch in Ithilien! Es gefällt ihm gut dort! Er sagt, das Klima sei gut für seine Gesundheit! Vielleicht wird er irgendwann doch noch mal in seine Heimat zurückkehren!“
Mit langen Bürstenstrichen striegelte sie die Mähne des silbergrauen, großen Hengstes. Boromir sah ein Weilchen zu und fragte dann:
„Und wie geht es Vater? Hat Faramir auch von ihm erzählt?“
„Ja… Er scheint Faramir ein klein wenig in alles reinreden zu wollen…“
„Oh ja, das ist Vater!“
„Und er will vielleicht später bei uns wohnen…“
„Was!?! Um Erus Willen!“
„Bis dahin dauert es noch ein wenig, Boromir. Und wer weiß – vielleicht sind dann auch deine Kopfschmerzen verschwunden… Ich denke doch, das wir gleich nach oben gehen und das Kraut ausprobieren sollten… Ich bin hier nämlich fertig!“
„Wie wird es denn angewendet?“
„Nun, ich soll eine Suppe daraus kochen!“
Boromirs entsetzter Gesichtsausdruck musste Bände gesprochen haben, denn sie brach in silberhelles Lachen aus, das er so liebte. Und das er so lange vermisst hatte. Eine Suppe! Von Eowyn!
„Hab keine Angst, Boromir! Ich bin sicher, man kann es auch anders anwenden! Also wollen wir?“
„Wir wollen!“ seufzte Boromir. Und er reichte seiner Frau seinen Arm, den sie lächelnd ergriff…
So konnte er ihr wenigstens nicht weglaufen oder umfallen.

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