von Maria King
„Tanz!“, johlen die Männer. „Tanz!“
Ana blickt verstört um sich. Noch immer glaubt sie, die tastenden Hände des Mannes auf ihrem Körper zu spüren, der sie erst gepackt und dann auf den schweren Holztisch im Rittersaal gestellt hat. Da steht sie nun, ihr Blick schweift angstvoll den mit prächtigen Wandteppichen ausgestatteten Saal. Die Männer drängen sich um den Tisch, um den besten Blick auf sie erhaschen zu können. Vorne stehen die Ritter und die Mönche, dahinter die Knappen und die Knechte.
„Tanz!“ Die gebieterische, kalte Stimme gehört dem Burgherrn, der sich auf der Stirnseite mit dem Rücken zur offenen Feuerstelle aufgebaut hat. Seine Hand winkt fordernd einem jungen Mann, der in einer Ecke sitzengeblieben ist und mit ängstlichem Blick eine Laute umklammert.
Der Lautenspieler fährt zusammen. Ramos steht schon seit einigen Wochen im Dienst des Grafen. Er beherrscht trotz seiner jungen Jahre bereits ein großes Repertoire an Heldenepen, Trink- und Tanzliedern. Doch jetzt zu spielen erscheint ihm undenkbar. Das Mädchen tut ihm leid. Er würde ihr gern helfen. Doch – wie denn? Es sind so viele – die meisten davon kampferprobte Ritter. Er hingegen ist nur ein junger Gaukler, dessen Lautenspiel dem Fürsten gefällt. Er kann nicht das Geringste gegen sie ausrichten. Die gierigen Hände der Männer greifen nach den Beinen des Mädchens. In ihrem Blick steht eine Verzweiflung, die ihm durch Mark und Bein geht. Einer hat sogar ihren Rocksaum gepackt und lacht dreckig… Da versteht er, dass er spielen muss, um ihr zu helfen, und beginnt ein einfaches Tanzlied.
Ana ist erleichtert, als der Lautenspieler zu spielen beginnt. Das gibt ihr die Möglichkeit, den tastenden Händen zu entkommen. Ihre Füße wagen die ersten zaghafte Schritte, ihre Arme schrauben sich in den Himmel, ihre Hände greifen die Luft, als hoffen sie auf eine unsichtbare Leiter, mit der sie diesen Ort verlassen kann.
Doch es ist vergebens, sie kann den gaffenden Gesichtern, den weit geöffneten Mündern, dem grausamen Lachen der Männer um sie herum nicht entkommen.
Ramos müht sich mit dem Tanzlied ab. Es hat eine einfache Melodie und einen einfacher Rythmus, doch nicht einmal dies will ihm richtig gelingen. Zu sehr nimmt ihn der Anblick des jungen Mädchens auf dem Tisch gefangen. Mit ihren schreckgeweiteten Augen wirkt sie auf ihn wie ein wildes Tier, ein scheues Reh, gehetzt von Hunden, eingekreist, in der Falle.
Ein Sprung, eine Drehung, alles, um den Händen zu entgehen, die nach ihr greifen. Und es gibt nichts, was er tun kann, um ihr zu helfen. Außer zu spielen.
„Spiel etwas anderes!“ fordert der Burgherr. „Spiel etwas Schnelleres. Sie soll sich bewegen!“
Zögernd beendet der Lautenspieler das Tanzlied. Das Mädchen jedoch tanzt weiter, um den tastenden Händen zu entgehen. Die Männer lachen gemein. Ramos Kopf ist leer, völlig leer, er kann sich an überhaupt keine andere Melodie erinnern. Hände greifen nach ihr… Er beginnt, hastig die Saiten zu zupfen, einfach, um überhaupt irgend etwas zu spielen.
Da kristallisiert sich langsam eine Melodie heraus, fremd und doch auf eine gewisse Weise vertraut. Dieses Lied hat er schon öfter am Feuer gehört und einmal hat auch eine Frau dazu getanzt. Er kann sich nicht entsinnen, es jemals selbst gespielt zu haben. Der Rhythmus ist sehr ungewöhnlich, seine Finger stolpern mehr, als dass sie spielen. Aber ihm fällt partout nichts anderes ein. Also spielt er weiter.
Ana ist verwirrt. Sie kennt die Melodie, das schon, hat diesen Tanz aber noch nie selbst getanzt. Doch jetzt ist keine Zeit, darüber nachzudenken. Nur mühsam finden ihre Füße in den Rhythmus. Ihre Hände greifen wieder ins Nichts, sie fühlt sich hilfloser als je zuvor.
Die Augen des Lautenspielers ruhen voller Sorge auf ihrer anmutigen Gestalt. Warum nur hat er ausgerechnet dieses Lied angefangen? Sie wirkt so unsicher. Der Burgherr runzelt die Stirn. Er sieht überhaupt nicht zufrieden aus.
Aber dann findet sie sich doch langsam in den Rhythmus ein. Sie setzt ihre Füße sicherer. Ihr Blick hängt nicht mehr angsterfüllt an Ramos oder den Männern. Stattdessen starrt sie zur offenen Feuerstelle hin. Unwillkürlich beginnt sie, das Feuer zu imitieren, sie bewegt ihre Arme, als seien auch sie zuckende Zungen, die sich nach trockener Rinde und dünnen Zweigen verzehren…
Feuertanz. So heißt dieser Tanz. Sie meint, die mahnenden Wort der Alten zu hören: Tanzt nicht zu lange, Kinder, nicht diesen Tanz. Denn das Feuer… Doch Ana hat keine andere Wahl. Es ist ihr in diesem Moment völlig egal, was die Alten sagen.
Ihre Armbewegungen werden weiter und ausgreifender, intensiver ihr Tanz. Sie schließt die Augen.
Sie fühlt die Wärme des Feuers wie die Umarmung einer geliebten Schwester. Tanz, Schwester! flüstert es in ihrer Seele.
Ramos kann seine Blicke nicht mehr von ihr abwenden. Seine Finger spielen von alleine, ohne dass er nachdenken muss. Er fühlt keine Angst mehr, sondern nur noch grenzenlose Bewunderung. So schön ist sie, so schrecklich schön… Ihre Arme bewegen sich zuckend im Rhythmus der Melodie, ihre Bewegungen sind heftig und sanft, kraftvoll und zärtlich zur gleichen Zeit.
Und doch kann er sich nicht voll auf die anmutigen Bewegungen konzentrieren. Ich kenne diesen Tanz, sagt ein dünnes Stimmchen in seinem Kopf. Du musst dich an den Namen erinnern.
Sei still! befiehlt er. Siehst du nicht, wie sie tanzt? Wie schön sie tanzt?
Es ist aber wichtig! beharrt die Stimme.
Unsinn. Wie kann etwas wichtiger sein als sie, als ihr Tanz, ihre Schönheit?
Die Stimme verstummt einen Moment und Ramos taucht ein in den Tanz. Wie in Trance ist er, er kann die Augen nicht mehr von ihr lösen, so schön, so unglaublich schön ist sie.
Plötzlich meldet sich die dünne Stimme wieder und sagt nur ein Wort.
Feuertanz!
Es fühlt sich an, als hätte man ihm einen Eimer mit kaltem Wasser über den Kopf gegossen.
Feuertanz!
Eine Flut von Gedanken strömt auf ihn ein. Er erinnert sich an ein junges Mädchen am Feuer, dass zu einer merkwürdigen Melodie tanzt und eine alte Frau, die schimpft: Hört auf! Es ist gefährlich!
Ramos ist entsetzt. Seine Mutter hat ihn gewarnt, dass er die alte Macht in sich trägt. Doch hat er sie noch nie zuvor gespürt. Bis jetzt. Auch das Mädchen muss über die geheimnisvolle Kraft verfügen. Sonst wäre sie nicht in der Lage, alle so in ihren Bann zu ziehen.
Er blickt sich um, als wäre er gerade erst aus einem langen, düsteren Traum erwacht. Statt nach ihr zu greifen, stehen die Männer nur noch stumm da mit weit aufgerissenen Mündern und scheinen völlig hypnotisiert von ihrem Anblick. Sein Blick fällt auf den Burgherrn. Die massige Gestalt hebt sich düster vor der Feuerstelle ab. Und da begreift Ramos zum ersten Mal die Macht, die sie entfesselt haben. Denn das Feuer, das eben noch glimmte, beginnt plötzlich, hell aufzulodern und verwandelt sich vor seinen Augen in ein höllisches Inferno. Die Flammen schießen aus der Feuerstelle hervor und erfassen den Mantel des Burgherrn. Dieser bleibt starr stehen, seine Augen sind weiter auf das Mädchen gerichtet, während er Feuer fängt. Die Flammen zucken weiter, zum Ritter, der rechts daneben steht, zum Mönch, der sich links vom Burgherrn steht und sich permanent bekreuzigt, während er die Bewegungen des Mädchens nicht aus den Augen lässt.
Und dann beginnt der Tisch zu brennen, auf dem sie steht und tanzt. Und er kann nichts tun, nichts tun…
Hör auf zu spielen, du Idiot! brüllt plötzlich das dünne Stimmchen, mit einer Kraft, die er ihm niemals zugetraut hätte.
Und er hört auf. Einen Moment ist alles so wie zuvor, doch dann…
Ein Schrei zerreißt die Stille im Raum, der brennende Burgherr beginnt laut zu schreien, die anderen Männer stimmen mit ein. In den Augen der Männer schimmert der Wahnsinn. Es herrscht blankes Chaos. Überall ist Feuer, um ihn herum, und sie… tanzt einfach weiter, umgeben von den Flammen, die sie zu umschmeicheln scheinen.
Ohne zu überlegen, lässt Ramos die Laute fallen und springt auf. Mit einem Satz ist er am Tisch, er stürzt sich in das Hölleninferno, erwischt Ana am Bein und zieht sie in seine Arme. Sie ist unglaublich heiß, so heiß, dass er sie kaum halten kann. Doch er schaffte es, zum geöffneten Fenster zu taumeln. Mit Ana in seinen Armen stürzt er sich in die Tiefe.
Was sie für ein Glück haben. Sie sind in der Pferdetränke gelandet – und das, ohne sich die Beine oder den Hals gebrochen zu haben. Ana liegt neben ihm im Wasser und zittert. Leise flüstert sie Worte vor sich hin, die er nicht versteht. Mehrere gesattelte Pferde sind an der Tränke angebunden. Sie schnauben unruhig, denn natürlich spüren sie das Feuer, das sich immer weiter im Haupttrakt der Burg ausbreitet..
Ramos ergreift die Zügel des Tieres, das ihm am nächsten ist und bindet es los. Es scheut zurück. Doch er kann gut mit Pferden umgehen. Das Tier beruhigt sich etwas und erlaubt ihm, aufzusteigen. Mit Mühe bückt er sich, zerrt das Mädchen aus der Tränke in den Sattel und presst sie an seine Brust. Dann prescht das Pferd auch schon durch das unbewachte Burgtor, denn die Wächter sind verzweifelt damit beschäftigt, das Feuer zu löschen. Unbehelligt reitet Ramos in die Nacht hinaus, mit Ana in seinen Armen.
Das Ziel ist klar. Er reitet zum Lager der Gaukler am Fuße des Burgberges. Denn wenn Zauberei im Spiel ist, sind es immer die Gaukler, die zuerst die Schuld zugeschoben bekommen.
„Ihr müssen aufbrechen! So schnell wie möglich!“, ruft er.
Im Nu ist das ganze Lager in Aufruhr.
„Was ist passiert?“ ruft Nada, die Clanführerin. Sie eilt herbei und wirft einen Blik auf das bewusstlose Mädchen in seinen Armen. Dann wirft sie einen Blick zum Burgberg. Die wild lodernden Flammen erhellen die Nacht.
„Feuertanz“, sagt er nur. Die Gaukler bleiben stehen und starren ihn mit weit aufgerissenen Mündern an.
„Sie werden alle töten, die sie finden! Nehmt nur das Nötigste mit. Lasst die Wagen hier“, ruft Nada. Dann wendet sie sich an Ramos. „Das Mädchen bleibt auch hier“, befielt sie.
Ramos starrt sie erschrocken an.
„Sie ist verloren. Gib ihnen, was sie wollen. Lass sie hier. Nur das wird uns retten“, bekräftigt Nada ihre Worte.
„Nein, niemals!“ ruft Ramos verstört. Er weiß nicht, was über ihn gekommen ist, aber er kann sie nicht aufgeben. Nicht nach dem, was gerade geschehen ist.
„Dann verstoße ich dich!“ sagt Nada. Ihre Augen sind voller Schmerz, doch ihre Stimme ist erbarmungslos.
„Nimm sie, verschwinde und lass dich nie wieder blicken.“
Ramos hält Ana weiter in seinen Armen. Sprachlos beobachtet er die Gaukler dabei, wie sie schnell ihre Sachen packen. Die Alten und die Kinder setzen sie auf die bunt gescheckten Ponys. Die Wagen lassen sie stehen. Schon wenige Augenblicke später sind sie unterwegs.
Ramos treibt das Pferd an, um ihnen zu folgen.
Doch Nada baut sich vor ihm auf. „Sie hat uns alle in große Gefahr gebracht. Sie muss hier bleiben.“
„Ich kann sie nicht allein lassen“, flüstert Ramos.
„Sie ist verloren“, sagt Nada. Ihre Stimme wird etwas weicher. „Das Feuer wird sie verzehren. Sie hat sich zu weit treiben lassen.“
„Ich kann sie nicht verlassen“, flüstert Ramos noch einmal.
„Dann bist du verloren wie sie.“ Nadas Stimme klingt hart wie Stahl. „Bleib weg von uns.“
„Mutter“, flüstert Ramos. Doch sie wirft ihm nur einen traurigen Blick zu, dreht sich um und folgt den anderen.
Ramos treibt dem Pferd die Beine in die Flanken an. Es will der Gruppe folgen, doch er drängt es in eine andere Richtung. Er hat mit seinem Clan gebrochen, doch es bleibt keine Zeit, um darüber nachzudenken. Er weiß nur, dass er Ana nicht aufgeben kann. Niemals.
Ramos lässt das Pferd in einen schnellen Trab fallen. Sie müssen so schnell so weit weg wie nur irgend möglich.
Ana ist völlig erschöpft. Ihr Kopf lehnt an der Schulter des Lautenspielers. Sie weiß instinktiv, dass er es ist, der sie gerettet hat. Sie hat es schon gespürt, als sie ihn zum ersten Mal bewusst wahrgenommen hat. Eine verwandte Seele. Ein Träger der alten Macht. Wie sie. Sie kann sich nicht genau erinnern, was passiert ist. Nur an die Wärme, die sie gespürt hat. Doch die Wärme ist verschwunden. Stattdessen ist es kalt, so kalt. Der Lautenspieler spürt wohl, wie sie zittert. Denn sie hört, wie er ihr beruhigende Worte ins Ohr flüstert:
„Es ist vorbei! Wir sind in Sicherheit.“
Vorbei! Nichts ist jemals vorbei! Ob er es ahnt?
Und es ist kalt, o kalt… die Nachtluft hält sie mit kaltem Griff gefangen, sie kann sich nicht befreien…
Ramos hat das Pferd die ganze Nacht über angetrieben. Im Morgengrauen wagt er endlich eine kleine Pause. „Es ist gut!“ flüstert er. „Alles ist gut, wir haben es geschafft.“ Er hebt das Mädchen vom völlig erschöpften Pferd, lehnt sich an den Stamm einer mächtigen Eiche und hält sie fest in seinen Armen. Er küsst ihre Stirn.
„Wie kalt du bist“, murmelt er besorgt. Behutsam wickelt er sie in seinen Mantel und entzündet ein kleines Feuer.
Ana spürt die Wärme. Sie windet sich in den Armen von Ramos, dreht sich zum Feuer und greift in die Flammen.
„Bist du verrückt?“ Ramos packt sie, zerrt sie zurück.
„Lass doch!“ flüstert sie. „Siehst du nicht? Das Feuer… So schön…“
Ramos wird kreidebleich.
„Das… das kann nicht sein…“, flüstert er und hindert sie gerade noch daran, ihre Füße in die Glut zu bohren.
Sie hält einen Moment lang still. „Erinnerst du dich?“ haucht sie dann leise. „Die Alten sagten immer: Tanz diesen Tanz nicht zu lange. Denn wenn du einmal eins bist mit dem Feuer…“
„Aber… das geht nicht! Das ist unmöglich! Nein!“
Sie seufzt kaum hörbar. „Das Feuer hat mich gerettet. Ich bin ein Teil von ihm geworden.“
„Aber… das heißt… das heißt…“
„Ich kann hier nicht bleiben.“
„Aber ich habe dich doch gerade erst gefunden“, flüstert er. „Ich kann dich nicht gehenlassen.“
Sie schüttelt verzweifelt den Kopf und vergräbt ihren Kopf an seiner Brust.
Gegen Mittag brechen sie auf. Sie sind weit gekommen in dieser Nacht, mit Sicherheit haben sie das Land des Grafen bereits hinter sich gelassen. Doch nun brauchen sie etwas zu essen. Als sie auf ein Dorf stoßen, wagt Ramos, sich zu zeigen. Die Dorfbewohner sind freundlich. Sie glauben Ramos, dass er ein Adeliger ist, der von Räubern überfallen wurde und sich und seine Braut nur mit Mühe und Not retten konnte. Beim Hufschmied tauscht er den prächtig verzierten Sattel gegen einen einfachen und erhält dazu noch einen Beutel mit Silbermünzen.
Danach kann er gerade noch Ana aufhalten, die sich in der Zwischenzeit immer mehr dem Schmiedefeuer genährt hat und Anstalten macht, hineinzugreifen. Er zieht Ana von der Schmiede weg, kauft Wein, Brot und Käse und sieht zu, dass sie schnell weiterreiten.
In der Nacht wagt er es nicht, Feuer zu machen, obwohl es sehr kalt ist. Er hat Ana in seinen Mantel gewickelt und hält sie fest – einmal, um sie zu wärmen, aber auch, um sie am fortlaufen zu hindern.
„Bitte“, haucht sie.
„Nein! Ich kann nicht!“ flüstert er.
Am nächsten Morgen reiten sie weiter. Das nächste Dorf. Ein Feuer brennt.
„Lass mich gehen!“ flüstert sie. Sein Gesicht wird grau, er ergreift ihren Arm und bringt sie weg, fort von der Wärme.
Ramos kauft von seinem Geld eine neue Laute. Kein prächtiges Instrument, aber er kann ihm schöne Töne entlocken und ist zufrieden mit der Qualität. Es wäre ihm ein Leichtes, damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen – als fahrender Sänger oder auch in fester Anstellung eines Fürsten. Doch jedes Mal, wenn sie sich einem Feuer nähern, muss er Ana fast gewaltsam fortziehen. Und jeden Tag scheint der Drang schlimmer zu sein… Ein Monat vergeht so. Ein Monat, in dem Ana so gut wie nicht isst und trinkt, in dem ihre Haut fahl wird, in dem sie vor Kälte zittert, Tag und Nacht.
Sie lagern auf einer Lichtung, fern von jedem Dorf. Es ist Mittag, die Sonne strahlt hell auf Ana herunter. Doch selbst die Sonnenstrahlen können sie nicht wärmen, sie zittert, als befände sie sich mitten in einem eisigen Schneesturm. Der vielleicht letzte warme Tag des Jahres. Der Winter nähert sich raschen Schrittes. Die kalten Nächte kündigen es bereits an.
„Ramos“, flüstert sie.
Natürlich weiß er, um was sie ihn bittet. Nur allzu gut weiß er das.
„Ich kann nicht“, murmelt er, während er sein Gesicht in ihrem langen schwarzen Haar vergräbt.
„Ich bin verloren“, flüstert sie. „Lass mich gehen. Bitte, Ramos. Du musst mich loslassen.“
Lange sitzen sie eng umschlungen da. Dann gibt Ramos sie frei.
„Geh!“ sagt er mit tränenerstickter Stimme. „Geh!“
Sie küsst ihn lang und intensiv. Dann springt sie auf. Wie ausgewechselt läuft sie leichtfüßig über die Lichtung, sammelt trockene Zweige, schichtet sie sorgsam zu einem Haufen. Ramos sitzt stumm da und schaut ihr zu.
Als die Sonne hinter den Bäumen verschwindet, hat sie ihren Scheiterhaufen fertiggestellt. Sie bleibt stehen, betrachtet ihr Werk und blickt Ramos schließlich erwartungsvoll an.
Langsam steht er auf. Ana kommt auf ihn zu und legt sanft ihre Hand auf seinen Arm.
„Bitte“, sagt sie nur.
„Ich wünschte… ich wünschte, ich hätte das Lied nie gespielt“, bricht es aus ihm heraus. „Wenn ich das Lied nicht gespielt hätte…“
Sie sieht ihn nachdenklich an.
„Du weißt, was dann passiert wäre“, erwidert sie nur.
Es überläuft ihn kalt. Nur zu deutlich erinnert er sich an die gierigen Blicke des Burgherren. Er schämt sich. Und doch… Er hätte einen anderen Weg finden müssen. Er hätte…
Ana stellt sich auf die Zehenspitzen und drückt ihm einen Kuss auf die Lippen. „Gräm dich nicht und gib dir nicht die Schuld“, sagt sie sanft. „Du hast das alles getan, um mir zu helfen. Es gab keinen anderen Weg. Sie jagen mich schon so lange. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich anders bin als sie. Egal, wo ich hinkomme, nennen sie mich eine Hexe oder eine Hure. Oder beides. Ich bin müde, Ramos. Totmüde. Und ich kann nicht mehr dagegen kämpfen.“
„Aber wir hätten eine Chance. Zusammen…“, flüstert er.
„Ich bin zu weit fort. Ich habe in den letzten Tagen gespürt, wie es mit uns sein könnte. Wie es sein sollte.
Aber es ist zu spät. Ich kann nicht hierbleiben. Nicht mehr.“
Tränen laufen über sein Gesicht. Er weiß, dass sie recht hat.
Ana weint nicht. Ernst blickt sie ihm ins Gesicht. „Es ist Zeit“, sagt sie fest.
Ramos nickt. Seine Beine wollen nicht gehorchen, doch er zwingt sie vorwärts, über die Lichtung, auf Anas gigantischen Scheiterhaufen zu. Er nimmt den Feuerstein aus der Tasche. Ana steht dicht neben ihm.
„Es tut mir leid“, flüstert sie. „Für mich gibt es keine Zukunft. Aber für dich. Versprich mir, dass du…“ Sie zögert einen Moment. „Dass du nicht aufgibst. Und dass du weiterspielst.“
Ramos hat keine Worte mehr. Er nickt unter Tränen. Er betrachtet den Feuerstein in seiner Hand. Was, wenn er nass geworden ist? Wenn er den Scheiterhaufen nicht anstecken kann? Eine verzweifelte Hoffnung greift nach ihm.
Er schlägt Funken.
Gleich der erste Versuch ist erfolgreich. Ein trockener Zweig fängt sofort Feuer und mit ihm alles andere.
Ramos weicht instinktiv zurück. Ana bleibt stehen.
In wenigen Augenblicken lodern Flammen in den Himmel, hoch wie die Bäume, die die Lichtung umgeben.
Ana steht mitten im Inferno. Und sie beginnt zu tanzen, ihre Füße drehen sich, ihre Haare fliegen wie ein Umhang hinter ihr her.
Und sie lacht, zum ersten Mal, seit er sie kennt, hört er sie lachen. Er weicht weiter zurück, bis er mit dem Rücken an einen Baum stößt. Ramos lässt sich fallen und starrt in die Flammen. Lange noch glaubt er, ihre Gestalt ausmachen zu können, wie sie im Feuer tanzt.
Und lange sitzt er so da, auch noch, als das Feuer schon längst heruntergebrannt ist.
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