Die Völuspá – die Weissagung der Seherin

Völuspá bedeutet übersetzt „Weissagung der Seherin“. Es ist das Eingangsgedicht der Lieder-Edda und das erste der 16 Götterlieder aus dem „Königsbuchs“ Codex Regius. Die Völuspá gilt als eines der bedeutendsten Gedicht des Mittelalters. Die normalisierte Form besteht aus 66 Strophen, die in Stabreimversen (Fornyrðislag) geschrieben wurden.

Das Gedicht der Seherin beschreibt einen kurzen Abriss der Nordischen Mythologie samt Göttern, Riesen und Zwergen. Nicht zuletzt J. R. R. Tolkien hat sich dabei der Namen der Zwerge aus dem Hobbit bedient!

Besonders eindringlich ist die Schilderung von Ragnarök, dem Ende der Welt. Diese geht vermutlich auf den Ausbruch der Vulkanspalte Eldgjá auf Island zurück, die unzähligen Menschen das Leben gekostet haben muss – das legen zumindest geologische Funde nahe. Der Ausbruch übertraf bzgl. der Massen von ausgestoßenem Gestein und Lava sogar den Ausbruch des Laki im Jahr 1783, bei dem etwa ein Viertel der isländischen Bevölkerung (ca. 12000 Menschen) ums Leben kam.

Die Völuspa spielt eine große Rolle im Wikingerroman Die Sklavin des Kriegers von Runa Valgard.

Die Völuspa im Wortlaut

Übersetzung: Karl Joseph Simrock

(* 28. August 1802 in Bonn; † 18. Juli 1876)

1 Allen Edlen gebiet ich Andacht, 
Hohen und Niedern von Heimdalls Geschlecht.
Ich will Walvaters Wirken künden, 
Die ältesten Sagen, der ich mich entsinne. 

2 Riesen acht ich die Urgebornen, 
Die mich vor Zeiten erzogen haben,
Neun Welten kenn ich, neun Äste weiß ich 
An dem starken Stamm im Staub der Erde. 

3 Einst war das Alter, da Ymir lebte,
Da war nicht Sand nicht See, nicht salzge Wellen, 
Nicht Erde fand sich noch Überhimmel, 
Gähnender Abgrund und Gras nirgend. 

4 Bis Börs Söhne die Bälle erhuben, 
Sie die das mächtige Midgard schufen. 
Die Sonne von Süden schien auf die Felsen 
Und dem Grund entgrünte grüner Lauch. 

5 Die Sonne von Süden, des Mondes Gesellin, 
Hielt mit der rechten Hand die Himmelsrosse. 
Sonne wußte nicht wo sie Sitz hätte, 
Mond wußte nicht was er Macht hätte, 
Die Sterne wußten nicht wo sie Stätte hatten. 

6 Da gingen die Berater zu den Richterstühlen, 
Hochheilge Götter hielten Rat. 
Der Nacht und dem Neumond gaben sie Namen, 
Hießen Morgen und Mitte des Tags, 
Under und Abend, die Zeiten zu ordnen. 

7 Die Asen einten sich auf dem Idafelde,
Hof und Heiligtum hoch sich zu wölben. 
(Übten die Kräfte alles versuchend,) 
Erbauten Essen und schmiedeten Erz, 
Schufen Zangen und schön Gezäh. 

8 Sie warfen im Hofe heiter mit Würfeln 
Und darbten goldener Dinge noch nicht. 
Bis drei der Thursen-Töchter kamen 
Reich an Macht, aus Riesenheim. 

9 Da gingen die Berater zu den Richterstühlen,
Hochheilge Götter hielten Rat, 
Wer schaffen sollte der Zwerge Geschlecht 
Aus Brimirs Blut und blauen Gliedern. 

10 Da ward Modsognir der mächtigste 
Dieser Zwerge und Durin nach ihm. 
Noch manche machten sie menschengleich 
Der Zwerge von Erde, wie Durin angab. 

11 Nyi und Nidi, Nordri und Sudri, 
Austri und Westri, Althiof, Dwalin, 
Nar und Nain, Niping, Dain, 
Bifur, Bafur, Bömbur, Nori; 
Ann und Anarr, Ai, Miödwitnir. 

12 Weig, Gandalf, Windalf, Thrain, 
Theck und Thorin, Thror, Witr und Litr, 
Nar und Nyrad; nun sind diese Zwerge, 
Regin und Raswid, richtig aufgezählt. 

13 Fili, Kili, Fundin, Nali, 
Hepti, Wili, Hannar und Swior, 
Billing, Bruni, Bild, Buri, 
Frar, Hornbori, Frägr und Loni, 
Aurwang, Jari, Eikinskjaldi. 

14 Zeit ist’s, die Zwerge von Dwalins Zunft 
Den Leuten zu leiten bis Lofar hinauf, 
Die aus Gestein und Klüften strebten 
Von Aurwangs Tiefen zum Erdenfeld. 

15 Da war Draupnir und Dolgtrasir, 
Har, Haugspori, Hläwang, Gloi, 
Skirwir, Wirwir, Skafid, Ai, 
Alf und Yngwi, Eikinskjaldi. 

16 Fialar und Frosti, Finnar und Ginnar, 
Heri, Höggstari, Hliodolf, Moin. 
So lange Menschen leben auf Erden, 
Wird zu Lofar hinauf ihr Geschlecht geleitet. 

17 Gingen da dreie aus dieser Versammlung, 
Mächtige, milde Asen zumal, 
Fanden am Ufer unmächtig 
Ask und Embla und ohne Bestimmung. 

18 Besaßen nicht Seele, und Sinn noch nicht, 
Nicht Blut noch Bewegung, noch blühende Farbe. 
Seele gab Odin, Hönir gab Sinn, 
Blut gab Lodur und blühende Farbe. 

19 Eine Esche weiß ich, heißt Yggdrasil, 
Den hohen Baum netzt weißer Nebel; 
Davon kommt der Tau, der in die Täler fällt. 
Immergrün steht er über Urds Brunnen. 

20 Davon kommen Frauen, vielwissende, 
Drei aus dem See dort unterm Wipfel. 
Urd heißt die eine, die andre Werdani,
Sie schnitten Stäbe; Skuld hieß die dritte. 
Sie legten Lose, das Leben bestimmten sie 
Den Geschlechtern der Menschen, das Schicksal verkündend. 

21 Allein saß sie außen, da der Alte kam, 
Der grübelnde Ase, und ihr ins Auge sah. 
Warum fragt ihr mich? Was erforscht ihr mich? 
Alles weiß ich, Odin, wo du dein Auge bargst, 

22 In der vielbekannten Quelle Mimirs. 
Met trinkt Mimir allmorgendlich 
Aus Walvaters Pfand! Wisst ihr, was das bedeutet? 

23 Ihr gab Heervater Halsband und Ringe 
Für goldene Sprüche und spähenden Sinn. 
Denn weit und breit sah sie über die Welten all. 

24 Ich sah Walküren weither kommen, 
Bereit zu reiten zum Rat der Götter. 
Skuld hielt den Schild, Skögol war die andre, 
Gunn, Hilde, Göndul und Geirskögul. 
Hier nun habt ihr Herjans Mädchen, 
Die als Walküren die Welt durchreiten. 

25 Da wurde Mord in der Welt zuerst, 
Da sie mit Geren Gulweig (die Goldkraft) stießen, 
In des Hohen Halle die helle brannten. 
Dreimal verbrannt ist sie dreimal geboren, 
Oft, unselten, doch ist sie am Leben. 

26 Heid hieß man sie wohin sie kam, 
Wohlredende Wala zähmte sie Wölfe. 
Sudkunst konnte sie, Seelenheil raubte sie, 
Übler Leute Liebling allezeit. 

27 Da gingen die Berater zu den Richterstühlen, 
Hochheilige Götter hielten Rat, 
Ob die Asen sollten Untreue strafen, 
Oder. alle Götter Sühnopfer empfahn. 

28 Gebrochen war der Burgwall den Asen, 
Schlachtkundge Wanen stampften das Feld. 
Odin schleuderte über das Volk den Spieß,
Da wurde Mord in der Welt zuerst. 

29 Da gingen die Berater zu den Richterstühlen, 
Hochheilge Götter hielten Rat, 
Wer mit Frevel hätte die Luft erfüllt, 
Oder dem Riesenvolk Odhurs Braut gegeben? 

30 Von Zorn bezwungen zögerte Thor nicht, 
Er säumt selten wo er solches vernimmt, 
Da schwanden die Eide, Wort und Schwüre, 
Alle festen Verträge jüngst trefflich erdacht. 

31 Ich weiß Heimdalls Horn verborgen 
Unter dem himmelhohen heiligen Baum. 
Einen Strom seh ich stürzen mit starkem Fall 
Aus Walvaters Pfand: wisst ihr, was das bedeutet? 

32 Östlich saß die Alte im Eisengebüsch 
Und fütterte dort Fenrirs Geschlecht. 
Von ihnen allen wird eins das schlimmste, 
Des Mondes Mörder übermenschlicher Gestalt. 

33 Ihn mästet das Mark gefällter Männer, 
Der Seligen Saal besudelt das Blut. 
Der Sonne Schein dunkelt in kommenden Sommern, 
Alle Wetter wüten, wisst ihr, was das bedeutet? 

34 Da saß am Hügel und schlug die Harfe 
Der Riesin Hüter, der heitre Egdir. 
Vor ihm sang im Vogelwalde 
Der hochrote Hahn, geheißen Fialar. 

35 Den Göttern gellend sang Gullinkambi, 
Weckte die Helden beim Heervater, 
Unter der Erde singt ein andrer, 
Der schwarzrote Hahn in den Sälen Hels. 

36 Ich sah dem Baldur dem blühenden Opfer, 
Odins Sohne, Unheil drohen. 
Gewachsen war über die Wiesen hoch 
Der zarte, zierliche Zweig der Mistel. 

37 Von der Mistel kam, so dauchte mich 
Häßlicher Harm, da Hödur schoß. 
(Baldurs Bruder, war kaum geboren, 
Als einsichtig Odins Erbe zum Kampf ging. 

Die Hände nicht wusch er, das Haar nicht kämmt er, 
Eh er zum Bühle trug Baldurs Töter.) 
Doch Frigg beklagte in Fensal dort 
Walhalls Verlust, wisst ihr, was das bedeutet? 

38 In Ketten lag im Quellenwalde 
In Unholdgestalt der arge Loki. 
Da sitzt auch Sigyn unsanfter Gebärde, 
Des Gatten Waise, wisst ihr, was das bedeutet? 

39 Gewoben weiß da Wala Todesbande, 
Und fest geflochten die Fessel aus Därmen. 
Viel weiß der Weise, weit seh ich voraus 
Der Welt Untergang, der Asen Fall. 
Gräßlich heult Garm vor der Gnupahöhle, 
Die Fessel bricht und Freki rennt. 

40 Ein Strom wälzt ostwärts durch Eitertäler 
Schlamm und Schwerter, der Slidur heißt. 

41 Nördlich stand an den Nidabergen 
Ein Saal aus Gold für Sindris Geschlecht. 
Ein andrer stand auf Okolnir 
Des Riesen Biersaal, Brimir genannt. 

42 Einen Saal seh ich, der Sonne fern 
In Nastrands, die Türen sind nordwärts gekehrt. 
Gifttropfen fallen durch die Fenster nieder; 
Mit Schlangenrücken ist der Saal gedeckt. 

43 Im starrenden Strome stehn da und waten 
Meuchelmörder und Meineidige 
(Und die andrer Liebsten ins Ohr geraunt). 
Da saugt Nidhögg die entseelten Leiber, 
Der Menschenwürger, wisst ihr, was das bedeutet? 

44 Viel weiß der Weise, sieht weit voraus 
Der Welt Untergang, der Asen Fall. 

45 Brüder befehden sich und fällen einander, 
Geschwister sieht man die Sippe brechen. 
Der Grund erdröhnt, üble Disen fliegen; 
Der eine schont des andern nicht mehr. 

46 Unerhörtes ereignet sich, großer Ehbruch. 
Beilalter, Schwertalter, wo Schilde krachen, 
Windzeit, Wolfszeit eh die Welt zerstürzt. 

47 Mimirs Söhne spielen, der Mittelstamm entzündet sich 
Beim gellenden Ruf des Giallarhorns. 
Ins erhobne Horn bläst Heimdall laut, 
Odin murmelt mit Mimirs Haupt. 

48 Yggdrasil zittert, die Esche, doch steht sie, 
Es rauscht der alte Baum, da der Riese frei wird. 
(Sie bangen alle in den Banden Hels 
Bevor sie Surturs Flamme verschlingt.) 
Gräßlich heult Garm vor der Gnupahöhle, 
Die Fessel bricht und Freki rennt. 

49 Hrym fährt von Osten und hebt den Schild, 
Jörmungand wälzt sich im Jötunmute. 
Der Wurm schlägt die Flut, der Adler facht, 
Leichen zerreißt er; los wird Naglfar. 

50 Der Kiel fährt von Osten, da kommen Muspels Söhne 
Über die See gesegelt; sie steuert Loki. 
Des Untiers Abkunft ist all mit dem Wolf; 
Auch Bileists Bruder ist ihm verbündet. 

51 Surtur, fährt von Süden mit flammendem Schwert, 
Von seiner Klinge scheint die Sonne der Götter. 
Steinberge stürzen, Riesinnen straucheln, 
Zu Hel fahren Helden; der Himmel klafft. 

52 Was ist mit den Asen? Was ist mit den Alfen? 
All Jötunheim ächzt, die Asen versammeln sich. 
Die Zwerge stöhnen vor steinernen Türen, 
Der Bergwege Weiser, wisst ihr, was das bedeutet? 

53 Da hebt sich Hlins anderer Harm, 
Da Odin eilt zum Angriff des Wolfs. 
Belis Mörder mißt sich mit Surtur; 
Schon fällt Friggs einzige Freude. 

54 Nicht säumt Siegvaters erhabner Sohn 
Mit dem Leichenwolf, Widar, zu fechten,
Er stößt dem Hwedrungssohn den Stahl ins Herz 
Durch gähnenden Rachen, so rächt er den Vater. 

55 Da kommt geschritten Hlodyns schöner Erbe, 
Wider den Wurm wendet sich Odins Sohn. 
Mutig trifft ihn Midgards Segner. 
Doch fährt neun Fuß weit Fiörgyns Sohn 
Weg von der Natter, die nichts erschreckte. 
Alle Wesen müssen die Weltstatt räumen. 

56 Schwarz wird die Sonne, die Erde sinkt ins Meer, 
Vom Himmel schwinden die heitern Sterne. 
Glutwirbel umwühlen den allnährenden Weltbaum, 
Die heiße Lohe beleckt den Himmel. 

57 Da seh ich auftauchen zum andernmale 
Aus dem Wasser die Erde und wieder grünen. 
Die Fluten fallen, darüber fliegt der Aar, 
Der auf dem Felsen nach Fischen weidet. 

58 Die Asen einen sich auf dem Idafelde, 
Über den Weltumspanner zu sprechen, den großen. 
Uralter Sprüche sind sie da eingedenk, 
Von Fimbultyr gefundner Runen. 

59 Da werden sich wieder die wundersamen 
Goldenen Bälle im Grase finden, 
Die in Urzeiten die Asen hatten, 
Der Fürst der Götter und Fiölnirs Geschlecht. 

60 Da werden unbesät die Äcker tragen, 
Alles Böse bessert sich, Baldur kehrt wieder. 
In Heervaters Himmel wohnen Hödur und Baldur, 
Die walweisen Götter. Wisst ihr, was das bedeutet? 

61 Da kann Hönir selbst sein Los sich kiesen, 
Und beider Brüder Söhne bebauen 
Das weite Windheim. Wisst ihr, was das bedeutet? 

62 Einen Saal seh ich heller als die Sonne, 
Mit Gold bedeckt auf Gimils Höhn, 
Da werden bewährte Leute wohnen 
Und ohne Ende der Ehren genießen. 

63 Da reitet der Mächtige zum Rat der Götter, 
Der Starke von oben, der alles steuert. 
Den Streit entscheidet er, schlichtet Zwiste, 
Und ordnet ewige Satzungen an. 

64 Nun kommt der dunkle Drache geflogen, 
Die Natter hernieder aus Nidafelsen. 
Das Feld überfliegend trägt er auf den Flügeln 
Nidhöggurs Leichen – und nieder senkt er sich.

Übersetzung: Karl Joseph Simrock (* 28. August 1802 in Bonn; † 18. Juli 1876)

Quelle: Wikisource.org

Die Völuspá und die Christianisierung Islands

Die Völuspá lässt sich auf vielfältige Art und Weise interpretieren. So wird immer wieder behauptet, das Gedicht enthalte Hinweise auf die Christianisierung Islands, die bald auf den furchtbaren Vulkanausbruch der Eldgjá folgte. Dafür gibt es jedoch keine historischen Belege. 

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