Die Kurzgeschichte und Parabel Auf der Galerie von Franz Kafka wurde 1919 veröffentlicht. Der Text erzählt mit einem Zirkusmotiv vom schönen Schein und dem tatsächlichen Sein.
Auf der Galerie – Franz Kafka
Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind – vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das – Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.
Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Salto mortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will – da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.
Zusammenfassung von „Auf der Galerie“ (Kafka):
In Franz Kafkas kurzer Prosaskizze „Auf der Galerie“ beschreibt ein Ich-Erzähler zwei gegensätzliche Szenarien:
- Erstes Szenario (hypothetisch):
Der Erzähler stellt sich vor, er würde als Zuschauer auf der Galerie eines Zirkus stehen und sähe, wie eine kranke, erschöpfte Reiterin brutal von einem Dompteur zur Show gezwungen wird. In dieser Vorstellung würde er in den Zirkus hinabspringen, schreien und die Situation heroisch beenden – er würde eingreifen, handeln, protestieren. - Zweites Szenario (real):
Tatsächlich aber sitzt er still und beobachtet, wie die Reiterin lachend ihre Kunststücke vorführt, begleitet vom Dompteur, der höflich die Manege präsentiert. Alles wirkt harmonisch, schön und problemlos – es besteht kein Anlass zum Eingreifen. Und so geschieht nichts.
Kurze Interpretation von Auf der Galerie:
Die beiden Teile der Geschichte schildern dieselbe Szene aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Einmal wird die Zirkusreiterin selbst beschrieben und der Zirkusdirektor als bösartiger Sklaventreiber angeprangert, im zweiten Teil konzentriert sich der Erzähler auf den Zirkusdirektor und schildert diesen als fürsorglichen Menschen.
Die Geschichte kann so interpretiert werden, dass der erste Teil die Realität wiederspiegelt, während der zweite Teil das ist, was der Zuschauer sieht – oder sehen will. Die erste Szene ist dazu ein innerer Wunsch nach Heldentum, eine Fantasie des Eingreifens gegen Unrecht. Doch sie ist rein hypothetisch. Die Realität zeigt ein perfektes Schauspiel – schön, glatt, aber vielleicht nur Fassade.
Die Geschichte thematisiert damit:
- Verdrängung von Leid: Die tatsächliche Situation könnte auch Leid enthalten, aber der Zuschauer erkennt oder anerkennt es nicht.
- Ohnmacht und Passivität: Selbst wenn Missstände existieren, bleibt der Einzelne oft Zuschauer.
- Kunst und Wahrheit: Der Zirkus steht metaphorisch für die Welt oder die Gesellschaft – was wie ein harmonisches Schauspiel wirkt, kann in Wahrheit ein Zwangssystem sein.
Fazit:
Kafka zeigt in wenigen Zeilen, wie leicht Realität und Fiktion ineinanderfließen und wie menschliche Vorstellungskraft oft mutiger ist als tatsächliches Handeln. Die Geschichte wirft die Frage auf, ob wir die Wahrheit wirklich sehen – oder nur das, was wir sehen wollen. Lediglich der empfindsame Zuschauer ahnt die Wahrheit und bricht deswegen am Ende weinend zusammen. In Zeiten von Dschungelcamp und Big Brother ist diese Geschichte nach wie vor brandaktuell – auch wenn sie fast 100 Jahre alt ist.
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