Die Bombe im Kino

Eine abstruse, heitere Kurzgeschichte

von Miriam Malik

Die Bombe im Wohnzimmerkino eines Provinznestes, in dem jeder jeden kannte, konnte jeden Moment hochgehen. Nur wusste das keiner der rund 20 Besucher, die sich gerade im Streifen „Hot Kisses“ tödlich langweilten. Die Liebesgeschichte war schmalzig, die Handlung äußerst dürftig, der Hauptdarsteller winzig und die Hauptdarstellerin dämlich. Außerdem hatte sie einen hässlichen Leberfleck am Hintern. Der Filmvorführer hatte gerade eine junge Prostituierte ermordet, weil er einen Mutterkomplex hatte und suchte verzweifelt ein Versteck für sie, in dem sie solange bleiben sollte, bis es dunkel genug draußen war, damit er sie unbehelligt in den Bach werfen konnte. Draußen regnete es, obwohl am Morgen noch die Sonne geschienen hatte und im Regen stand ein junger Eisverkäufer unter einem Sonnenschirm und wartete auf Kundschaft, die sich aber nicht einstellen wollte. Er war noch sehr jung und der Polizei schon länger ein Dorn im Auge, weil er nachts zu unmöglichen Zeiten laut murmelnd herumzustrolchen pflegte und friedliebende Passanten zu Tode erschreckte.
Im Kino drinnen tickte die Bombe munter vor sich hin, denn der Bombenbastler hatte sich gedacht, dass zu einer anständigen Bombe unbedingt ein anständiges Ticken gehörte. Das weiß man schließlich aus unzähligen Büchern und Filmen.

Der junge Mann, unter dessen Sitz sich die Bombe befand, rutschte nervös hin und her, denn er hatte daheim aus Versehen den Hamster seiner Tochter zerquetscht, indem er sich darauf gesetzt hatte. Er hatte gerade den Totalschaden betrachtet, da war seine Frau aufgetaucht und hatte ihn aus der Wohnung gejagt. Sie hing sehr an ihrer Tochter und die Tochter hing sehr an ihrem Hamster. Was der Hamster allerdings im Sessel zu suchen hatte, wird wohl nie ganz geklärt werden. Vielleicht hatte die Tochter den Käfig nicht richtig zugemacht oder das Tierchen hatte sich sonstwie aus seinem Gefängnis befreit oder die Tochter hatte es überhaupt nicht in den Käfig zurückgesetzt, weil sie sehr tierlieb war und es für schlecht hielt, Hamster in Käfige zu sperren. Der junge Mann wusste natürlich, dass er keine Schuld hatte, aber er war von seiner Frau total abhängig, weil auch er einen Mutterkomplex hatte. Er kam fast um vor lauter Schuldgefühlen und betete zu allem, was ihm einfiel, dass seine Frau ihn wieder in die Wohnung lassen würde. Wie schon gesagt, war er sehr nervös. Durch seine Nervosität aber machte er die ältere, beleibte Frau rechts neben sich nervös, die einzige Person übrigens, die wenigstens ab und zu einmal einen Blick auf die Leinwand warf, und zwar dann, wenn sie nicht in ihre Popcorntüte guckte und dass war immer dann, wenn sie beide Backen voller Popcorn hatte und laut schmatzte. Der junge Mann hatte sie mit seiner Nervosität so angesteckt, dass sie die Tüte fallen ließ. Sie fiel zwischen die rotgepolsterten Sitze und leerte sich während des kurzen Falles um die Hälfte. Die beleibte Frau bückte sich schnaufend zwischen die Sitze, denn es war für sie ungewohnt, sich so sehr anstrengen zu müssen. Als sie das Popcorn jedoch vom Boden aufsammelte nebst einigen ausgespuckten Kaugummis, hörte sie ein sonderbares Ticken. Sie erschrak und fuhr hoch, wobei sie die Popcorntüte diesmal völlig auskippte und ihrem rechten Nachbarn den Ellenbogen in die Seite rammte. Der Nachbar wollte sich gerade eine Tasse Tee aus einer Thermoskanne in einen Becher eingießen. Das Kino war seine zweite Heimat geworden, weil  ihn seine um 20 Jahre jüngere Freundin wegen einem Mann verlassen hatte, der 20 Jahre älter als er war. Er erschrak sehr dadurch, dass seine linke Nachbarin ihm einen Ellenbogen in die Seite rammte und so kippte er seinem rechten Nachbarn den Tee in den Schoß. Der rechte Nachbar von ihm war gerade dabei gewesen, eine Zigarette anzustecken. Kaum dass sie brannte, wurde ihm der Tee in den Schoß gekippt, der zu allem Überfluss auch noch kochend heiß war. Schließlich handelte es sich um eine 1A Thermoskanne. Er verlor seine Zigarette und stieß einen Schmerzensschrei aus, der das ganze Kino erbeben ließ, so schrecklich klang es. Mit schmerzverzerrtem Gesicht krümmte er sich zusammen. Seine Zigarette jedoch war einem jungen Mädchen in den Nacken gefallen, das verzweifelt versuchte, eine Schullektüre zu lesen und innerlich vor Wut kochte wegen den zahlreichen Bettszenen, in denen das Licht so schlecht war und sie verwünschte sich, dass sie keine Taschenlampe mitgenommen hatte. Sie hatte eigentlich mit ihrem Freund ins Kino gehen wollen, aber der hatte sie wegen einer anderen versetzt, so dass sie wutschnaubend allein hineingegangen war. Sie hatte auf ihn in einem Cafe´gewartet und da sie wusste, dass er gern ein bisschen später kam, hatte sie die Lektüre mitgenommen, weil sie die eigentlich schon längst hätte lesen müssen und ihr Lehrer ihr am nächsten Tag sicherlich aufs Dach stieg, wenn sie immer noch keine Ahnung von dem bescheuerten Buch hatte. Die Zigarette lag also in ihrem Nacken und rauchte ein bisschen und sengte einige Haare an und sengte noch einige mehr Haare an und plötzlich hatte sie ein kleines Lagerfeuer im Nacken und das tat weh und sie sprang auf und schrie wie am Spieß und dann schrie sie noch mehr, weil der Mann mit der Thermoskanne den Brand bemerkt hatte und ihn mit dem restlichen Thermoskanne löschte, was sehr gut gedacht war und sehr gut funktionierte, nur war der Tee immer noch sehr heiß und so verbrannte das Mädchen sich den Hals nicht nur wegen dem Zigarettenfeuerchen, sondern wegen dem Tee. Leider, leider funktionierte die Sprinkleranlage nicht, denn sonst hätte es sofort eine kleine Abkühlung gegeben. Sie hätte ihre Schleusen geöffnet und die Kinobesucher wären alle nass geworden und hätten nach Hause gehen müssen und dann wäre vieles anders verlaufen. Nur funktionierte sie leider nicht und so nahm alles seinen tragischen Lauf. Das Mädchen stand also da in der Mitte des Kinos und schrie wenige Augenblicke nach dem Mann mit der Zigarette wie am Spieß. Die Langeweile im Kino war vergessen. Ein Kinobesucher aus einer Reihe weiter unten beschwerte sich lautstark, dass es ihm unmöglich sei, im Kino zu schlafen, wenn, ich zitiere, „so eine blöde Kuh das Plärren anfängt als ob sie eine Vogelspinne in den Busen gebissen hätte.“ Er war aufgesprungen und hatte sich umgedreht und starrte sie an, denn er hatte in ihr seine Tochter erkannt, der letzte Mensch, den er hier zu sehen erwartet hatte, denn er hatte ihr drei Wochen Hausarrest erteilt, weil er sie mit ihrem Freund erwischt hatte, den er nicht leiden konnte, weil der Freund, wie die Jugend von heute, total verdorben war und rauchte und kiffte und trank und sein Auto zerkratzt hatte. Zumindest glaubte das der Vater der Tochter. Er wusste ja nicht, dass es aus zwischen den beiden war, aber selbst, wenn er es gewusst hätte, hätte er den Arrest kaum zurückgenommen. Er verließ seinen Platz und ging die Reihen hinauf zum Platz seiner Tochter, die noch immer schrie und packte sie am Arm und zerrte sie aus dem Kino. Wenigstens hatte sie jetzt eine prima Entschuldigung für den Deutschlehrer, weil sie am nächsten Tag nicht in die Schule gehen konnte wegen ihrem verbrühten Rücken. Hinter ihnen her schleppte sich der Mann, der, genauso wie das Mädchen, Bekanntschaft mit dem Tee geschlossen hatte. In der letzten Reihe saß eine Dame unbestimmten Alters. Sie hatte alles beobachtet und musste wegen dieser Kettenreaktion lachen. Und sie lachte und lachte und lachte so laut, dass es durch das ganze Kino hallte und sie lachte weiter und weiter und konnte nicht mehr aufhören und sie lachte so sehr, dass sie sich totlachte; sie starb an einem Herzinfarkt, weil ihr Herz, geschwächt von Alkohol, Drogen und Zigaretten, so viel Aufregung nicht vertrug. Alle nahmen Anteil an ihrem Schicksal, alle bis auf ein Liebespaar, das in der untersten Reihe saß und sich leidenschaftlichst schon den ganzen Film über küsste. Das Liebespaar war natürlich der Ex-Freund des Mädchens, das sich verbrannt hatte und ihre beste Freundin. Die drei Männer, die unmittelbar hinter dem Liebespaar saßen, verschlangen die beiden mit den Augen und fanden das viel amüsanter als das Leinwandgeschehen.
Der Vorführer bekam ob des Lärms im Kino die Krise. Er war sowieso schon so nervös und glaubte, der Lärm habe sicherlich irgend etwas mit ihm zu tun und verließ fluchtartig den Vorführraum und das Kino und die Stadt um nie wiederzukommen. Weil er das alles nicht verkraftete, fuhr er in den nächsten Wald und erhängte sich, völlig umsonst übrigens, wie sich herausstellen sollte. Er hatte die Leiche mittlerweile in einem Putzschrank versteckt. Dort fand sie irgendwann später die Putzfrau und meldete das der Polizei, die sofort den Eisverkäufer verhaftete, weil der ihr ja schon längst ein Dorn im Auge war. Der arme Mensch, der deswegen nachts laut murmelnd umherschlich, weil er Student war und irgendwann einmal gemerkt hatte, dass er des nachts im Umhergehen besser lernen konnte als irgendwo anders, wurde zu „lebenslanger“ Haft, also zu 15 Jahren verurteilt und er vergiftete sich später im Gefängnis ob der Schande, die ihm widerfahren war.
Währenddessen waren sich alle Kinobesucher, egal, ob die beleibte Frau, die überhaupt keinen Geschmack besaß und die grundsätzlich alle Filme, die im Kino liefen, gut fand – das lag vermutlich daran, dass sie sowieso immer abschweifte und noch nicht einmal die Handlung in groben Zügen wiedergeben konnte, weil sie ja unbedingt Popcorn essen musste (böse Zungen behaupteten oft, das Popcorn ihr Grundnahrungsmittel war), egal ob der nervöse  junge Mann, egal, ob diejenigen, die ins Kino gegangen waren, um sich endlich einmal wieder richtig auszuschlafen, weil der Ehepartner nachts um sich schlug oder schnarchte oder dem unglücklichen Kinogänger das Bett verbot und der Arme im Wohnzimmer auf der Couch übernachten musste, wo aber an Schlaf nicht zu denken war, weil die Wohnzimmeruhr so laut tickte und der Hund sich einbildete, er müsste auch unbedingt auf der Couch schlafen und die Bettfedern quietschten, weil es sich um eine Klappcouch handelte, die sicher schon ihre zehn bis zwanzig Lenze gesehen hatte, egal, ob diejenigen, die sich immer diese gemütliche Kinoatmosphäre antun mussten, weil ihre Stammkneipe Ruhetag hatte und das schon die ganze Woche über, weil dem Wirt die Kellnerin, die auch gleichzeitig seine Frau war, mit dem Kellner durchgebrannt war und der Wirt mit dem Kneipenbetrieb völlig überfordert war und die sich tödlich langweilten und immerfort gähnten und mit ihren Gedanken wo ganz anders waren als beim Film, sondern die an ihre Geliebten dachten und was man mit ihnen alles erleben könnte, wenn man nicht hier im Kino säße, weil die Geliebten leider Gottes geschäftlich unterwegs waren, was aber zumindest in einem Fall nicht stimmt, da war die Geliebte nämlich mit ihrem Ehemann im Bett, egal, wer von ihnen, alle waren sich darin einig: Das war die interessanteste Kinovorstellung in der Geschichte jenes besagten Provinznestes. Wenn die Kneipe jemals wieder aufmachen sollte, konnte man den armen Daheimgebliebenen am Stammtisch Geschichten erzählen… Geschichten, ja das könnte man… Natürlich müsste alles noch ein bisschen ausgeschmückt werden, die nüchternen Fakten waren sowieso nur der Frau in der letzten Reihe bekannt gewesen und die hatte sich ja totgelacht. Also konnte man ungestraft seiner Phantasie freien Lauf lassen und dann könnte die Geschichte so erzählt werden:
„Ach ihr Armen, stellt euch nur einmal vor, was ihr letztens im Kino verpasst habt! Wie sehr ich euch bedauere, dass ihr nicht dabei gewesen seid! Natürlich lag das nicht am Film, der war eher mäßig. Nein, stellt euch vor, ihr kennt doch den Waldhofbauern und seine Tochter. Stellt euch vor, die ist im Kino belästigt worden! Ja, von ihrem Nachbarn! Der hat ihr unter den Rock gegriffen und der hat des gefallen!“
„Skandal!“
„ Du meine Güte!“
„Ich hab euch doch scho immer gsagt, was des für a Luder is! An mein Bubn hat se sich auch scho rangemacht!“
„Ja, aber des ist ja noch nicht mal so schlimm! Ihr Freund hat des Stöhnen angefangen!“
„Was für merkwürdige Sitten!“
„Im Kino?“
„Vor allen Leuten?“
„Ja, wenn ich’s doch sage! Und dann hat sie kurze Zeit später auch das Kreischen angefangen. Da ist es dann allerdings einem braven Bürger zu viel geworden und er hat sie mit Tee übergossen! Ihr hättet das hören sollen, sag ich euch! Und ich hab alles ganz genau gesehen, wie der Kerl in ihrem Ausschnitt rumgefingert hat!“
„Nein!“
„Dann aber ist es ihrem Vater zu viel geworden. Sie hat ihn nämlich beim Schlafen gestört, ihr wisst ja, er muss immer in der Scheune schlafen, weil er Ärger mit seiner Frau hat und dabei hat der Ärmste doch eine Heuallergie. Jedenfalls hat er sie dann aus dem Kino befördert. Aber dem anderen Lump hat er noch eine reingehauen. Der ist dann auch aus dem Kino gekrochen.“
So oder so ähnlich hatte es wohl der eine oder andere vor zu erzählen. Als ob die ursprüngliche Geschichte nicht spannend genug gewesen wäre.
Im Kino war nach dieser Geschichte wieder Ruhe eingekehrt. Jeder hing seiner Beschäftigung nach. Der junge Mann, unter dessen Stuhl sich eine Bombe befand, wurde noch immer von Schuldgefühlen geplagt und war nervös. Die beleibte Frau stopfte sich weiter Popcorn in den Mund. Der Mann mit der Thermoskanne trauerte seinem Tee nach. Die Dame aus der letzten Reihe ruhte in Frieden. Der Filmvorführer war unterwegs zu seinem Baum im Wald. Das Liebespaar in der ersten Reihe stellte einen Dauerkussweltrekord auf und die drei Spanner sahen dabei zu. Die restlichen Kinobesucher gähnten oder schliefen oder rauchten oder tranken oder aßen oder langweilten sich. Der Eisverkäufer stand immer noch im Regen.
Da explodierte die Bombe.
Es gab zwei Tote, nämlich den nervösen jungen Mann und die Popcorntante. Dazu einen Schwerverletzten, den Teetrinker, dessen Nebenbuhler übrigens der Bruder der Nichte der Frau des Sohnes eines Schlafwandlers war, dessen Vater ein wichtiges politisches Amt bekleidet hatte und sogar im Bundestag gewesen war und der ob dieser Verwandtschaft natürlich einen geistigen Totalschaden hatte. Außerdem noch mehrere andere Leichtverletzte, unter anderem drei, die daheim Ehekrach hatten. Zwei versöhnten sich wieder, behielten aber ihre Geliebten, die Frau des dritten rannte in ein Auto und verschied und er heiratete erneut und zwar seine frühere Geliebte, deren Ex-Mann ihn einige Zeit später erschoss. Alle anderen im Kino bekamen einen Schock bis auf das Liebespaar, das von der Bombe nicht das Geringste mitbekommen hatte und den drei Spannern, die zu beschäftigt gewesen waren, um auf solche Kleinigkeiten wie eine Bombe im Kino zu achten. Das Mädchen, das gerade einen Dauerkussrekord aufstellte, heiratete übrigens zwei Jahre später den Kellner, der mit der Frau des Wirtes durchgebrannt war. Der Junge vertrug sich wieder mit der verbrühten Schönheit, heiratete sie aber nicht, worauf sie sich später im nahegelegenen Bach ertränkte – bei dem bisschen Bach wirklich eine Leistung. Der Teetrinker wurde aufgrund seiner Verletzungen von seiner Kinoheimat kuriert, konvertierte zum Hinduismus und wurde ein berühmter Yogi. Die Polizei suchte verzweifelt nach dem Bombenleger und machte schließlich einen auswärtigen Terrorist für das Kinotheater verantwortlich. Den richtigen Bombenleger fand sie niemals. Aber ohne es zu wissen hatte sie ihn bereits eingesperrt und zwar den Eisverkäufer, der Physikstudent war und einen selbstgebastelten Sprengsatz hatte testen wollen. Der Test gelang ja auch, nur wurde er eben leider als Prostituiertenmörder eingesperrt, weil er ein Alibi für die Bombenlegertatzeit hatte, aber keins für den Zeitpunkt des Mordes.

So legte sich allmählich wieder die bleierne, alltägliche Langeweile über das Provinzkaff…… Und wenn sie gestorben sind, sind sie tot.

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