Nacht über London – Moira King – Leseprobe

Mysteriöse Morde in London. Ein Überfall auf eine junge Frau. Ein schlecht gelaunter General. Gibt es einen Zusammenhang? Privatdetektiv Josh und Detective Marcus ermitteln Hand in Hand. Doch was sie dabei entdecken, ist so unfassbar, dass ihnen niemand glauben wird …

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“Bitte, tun Sie ihr nichts – sie ist doch erst zwei Jahre alt.”
“Zehntausend Pfund oder sie stirbt.”
“Ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen. Aber tun Sie ihr nicht weh!”
Privatdetektiv Josh Anderson nickte Mrs. King beruhigend zu. Sie machte das für ihre Verhältnisse sehr gut.
Vor zwei Tagen hatte sich die ältere Dame, die in einem schicken Haus in Belgravia wohnte, völlig aufgelöst bei ihm gemeldet. 
“Silvie ist entführt worden. Er will zehntausend Pfund! Gertrud Stone hat Sie mir empfohlen. Kümmern Sie sich auch um so etwas?”
Josh hatte eine gute halbe Stunde gebraucht, um Mrs. King soweit zu beruhigen, dass er verstanden hatte, worum es ging. Dann hatte er sich die Sache gut überlegt – und beschlossen, ihr zu helfen. Auch wenn Entführungen nicht sein Spezialgebiet waren – und er als Exsoldat Aufträge mit etwas mehr … Action bevorzugte. Aber er wusste, dass er nehmen musste, was er kriegen konnte.
Also klingelte er am Nachmittag an der Tür von Mrs. King. Sie wohnte am Belgravia Square, einer der teuersten Gegenden in ganz London – und dazu nur einen Steinwurf vom Buckingham Palace entfernt. Mrs. King ließ ihn sofort herein. Josh redete mit ihr, beruhigte sie, tröstete sie. Und er trug ihr auf, die zehntausend Pfund aufzutreiben – in möglichst unmarkierten 50-Pfund-Noten.
Nun, zwei Tage später, hatte sich der Entführer wieder gemeldet. Statt wüste Drohungen auszustoßen, wie bisher, hatte er diesmal konkrete Anweisungen für Mrs. King. 
“Stecken Sie die zehntausend Pfund in eine Plastiktüte und packen Sie diese in eine große Handtasche. Gehen Sie in den Hyde Park – zum Rosengarten. Lassen Sie die Tasche auf einer Bank liegen. Und dann gehen Sie”, schnarrte die Stimme des Erpressers durch das Telefon. Dann hat er auch schon wieder aufgelegt. Dilettanten, dachte Josh verächtlich und legte den Hörer des Zweitapparats, von dem er alles mitgehört hatte, behutsam auf die Gabel zurück.
“Er hat keinen Grund, Silvie wehzutun”, sagte er laut. “Sie werden schließlich tun, was er von Ihnen verlangt. Haben Sie das Geld?”
„Natürlich!“ In den Augen von Mrs. King standen Tränen – wie so oft in den letzten beiden Tagen.
„Hören Sie mir jetzt genau zu“, befahl Josh. „ Sie warten eine Viertelstunde. Dann nehmen Sie ein Taxi zum Hyde Park, gehen in den Rosengarten und tun genau, was der Mann gesagt hat. Danach gehen Sie zurück zur Hyde Park Corner und warten dort auf mich. Ich werde jetzt sofort aufbrechen und mir das Gelände schon einmal ansehen. Sie werden mich nicht sehen, können sich aber sicher sein, dass ich da sein werde. Haben Sie keine Angst – Ihrer Silvie wird nichts passieren.”
Mrs Stone nickte bang. Nach ein paar weiteren aufmunternden Worten setzte sich Josh in Bewegung. Er nahm den Hinterausgang, sprintete zu seinem Wagen und klemmte sich hinter das Steuer.
Josh parkte verbotenerweise am Rand des Hyde Park an der S. Carrier Drive. Er würde wohl ein Knöllchen kassieren, aber das war gerade nicht weiter wichtig. Er stieg aus dem Wagen und machte sich auf Richtung Rosengarten. Es war früher Nachmittag, der Hyde Park war trotz Nieselregens gut besucht. Einige Jogger machten ihre Runden, ein paar Soldaten der Royal Household Division aus der Knightsbridge Kaserne bewegten ihre Pferde, mehrere Hundebesitzer führten ihre vierbeinigen Gefährten aus.
Nach wenigen Augenblicken hatte er den Rosengarten erreicht. Langsam, wie ein typischer Spaziergänger, schlenderte er durch die Gartenanlage. Wegen dem Nieselregen waren die Bänke rund um den Artemis-Brunnen nicht besetzt. Aber am nördlichen Eingang stand ein kleiner, untersetzter Mann, der vollkommen fehl am Platz wirkte. Sein Gesicht wurde von einem buschigen Schnauzer, einem tief in die Stirn gezogenen Hut und einer spiegelnden Sonnenbrille verdeckt. Dazu hatte er eine schwarze Reisetasche mit einem breiten Riemen zum Umhängen bei sich. Josh schlenderte in Ruhe durch den östlichen Eingang hinaus und setzte sich oberhalb des Rosengartens auf eine Bank. Von hier aus hatte er alles im Blick.
Wenig später betrat Mrs. King das Rondell. Bei sich trug sie eine dicke Handtasche. Umständlich nahm sie auf einer der Bänke Platz. Ihre Nervosität war deutlich zu spüren. Nach ein paar Minuten stand sie wieder auf und ging, ohne sich weiter umzusehen, durch den westlichen Ausgang hinaus. Die Handtasche ließ sie liegen.
Kaum war sie verschwunden, sprang der untersetzte Mann auf. Er eilte auf die Parkbank zu, schnappte sich die Handtasche und stopfte sie in seine schwarze Reisetasche. Dann nahm er eilig den östlichen Ausgang. Dabei zog er sein Handy aus der Hosentasche und sprach schnell hinein. Josh folgte ihm in weitem Abstand. Der Mann hielt auf den Serpentine Lake zu. Er blickte sich immer wieder um, doch Josh schien er nicht zu bemerken. Auf jeden Fall ein Anfänger, dachte sich Josh kopfschüttelnd.
In dem Moment vibrierte sein Smartphone. “Sie ist hier!” brüllte eine überglückliche Mrs. King. “Silvie ist wieder da! Sie ist mir entgegengekommen, kaum dass ich den Rosengarten verlassen habe! Vielen vielen Dank! Wo sind Sie? Wie kann ich Ihnen danken?”
“Hervorragend, das freut mich. Ich brauche noch fünfzehn Minuten, dann bin ich bei Ihnen”, antwortete Josh. „Bitte warten Sie noch solange.“
„Aber…“
Er nahm sich keine Zeit für weitere Erklärungen, sondern beendete den Anruf mit Mrs. King und wählte eine andere Telefonnummer. 
“Scotland Yard”, meldete sich eine professionell klingende Frauenstimme. “Wie kann ich Ihnen helfen?”
“Ich möchte einen Fall von räuberischer Erpressung melden”, gab Josh durch und erklärte kurz den Sachverhalt.
Er folgte dem Mann weiter. Dieser hatte einen Weg nördlich vom Ufer des Serpentine Lake eingeschlagen. Sein Ziel war offensichtlich der Parkplatz an der West Carriage Drive. Das konnte eng werden, überlegte Josh. Was, wenn er es doch schaffte, zu seinem Wagen zu gelangen? Vielleicht war es an der Zeit, einzugreifen? Doch seine Sorge war unbegründet. Denn von Norden und Westen kamen jeweils zwei Polizeibeamte auf den Mann zu. Er begann, nach Süden zu laufen, auf den Serpentine Lake zu zu laufen. Doch da kamen auch von Süden und Westen Beamte heran. Sie umkreisten den Mann und er ergab sich in sein Schicksal. Gut. Als Josh den Erpresser in guten Händen wusste, wartete er nicht weiter ab, sondern eilte zurück zur Hyde Park Corner. Mrs. King wartete unter dem Torbogen an der U-Bahn Station mit Silvie auf dem Arm. Doch kurz, bevor Josh bei ihr ankam, traten zwei Polizisten auf sie zu – eine etwa vierzigjährige Polizistin im Rang eines Police Sergeant sowie ein noch sehr junger Police Constabler.
“Mrs. King?” fragte die Beamtin. “Ist bei Ihnen alles in Ordnung?”
Mrs. King blickte die Polizistin verwirrt an. Doch da war Josh schon heran.
“Keine Sorge”, beruhigte Josh die ältere Dame. “Ich habe die Polizei gerufen.”
“Sie sind Mr. Anderson?” Der junge Polizist musterte Josh misstrauisch.
“Der bin ich”, erwiderte Josh friedfertig.
“Sie haben gesagt, es geht um eine Entführung?” hakte die Polizistin nach.
“Richtig. Doch es hat sich alles geklärt. Ihre Kollegen haben den Erpresser gerade nördlich vom Serpentine Lake verhaftet.”
“Und das Entführungsopfer?”
Josh deutete auf Silvie, die Mrs. King noch immer an sich presste.
Die beiden Polizeibeamten starrten erst auf Silvie und dann auf Josh.
“Das ist ein Hund”, sagte die Polizistin schließlich leicht pikiert.
“Ein Hund?” schoss Mrs King sofort dagegen. “Das ist Silvie, Duchess and Lady of Kingsbridge, ein preisgekrönter Yorkshire Terrier! Wie können Sie es wagen, sie zu beleidigen! Und das auch noch ausgerechnet heute. Die Ärmste steht bestimmt noch unter Schock.”
Die Polizisten blickten noch einmal von Silvie auf Mrs. King und dann auf Josh.
„Das soll wohl ein Witz sein?“ fragte die Polizeibeamtin streng.
“Eher nicht. Die Entführer haben jedenfalls versucht, zehntausend Pfund von Mrs King zu erpressen”, meinte Josh mit leicht angedeutetem Schulterzucken. 
Das machte die Polizisten erst einmal sprachlos.
„Aber – Sie haben die Polizei gerufen?“ rief Mrs. King erschrocken aus. „Aber der Entführer hatte doch gesagt – keine Polizei. Wie konnten Sie? Wenn Sie das Leben von Silvie gefährdet haben…“
“Ich habe die Polizei erst gerufen, als Sie Silvie wiederhatten“, versuchte Josh Mrs. King zu beruhigen. “Sie möchten doch nicht, dass noch jemand anders das Gleiche wie Sie durchmachen muss?“
“Aber Gertrud meinte, Sie seien diskret…” Für Mrs. King war sichtlich eine Welt zusammengebrochen.
“Nicht, wenn es um Verbrechen geht“, erwiderte Josh ruhig.
Wenig später saßen sie in einem Streifenwagen, unterwegs zur Polizeiwache. Mrs. King war noch immer sehr erregt und plapperte ununterbrochen über ihr Hündchen.. Silvie währenddessen nahm die Sache deutlich gelassener. Sie gähnte und döste dann im Schoß ihres Frauchens vor sich hin.
Josh saß neben ihr und seufzte innerlich. Dognapping, dachte er sich. Wie tief bin ich gesunken. Immerhin, die zehntausend Pfund waren relativ leicht verdientes Geld gewesen. Aber dennoch… Wie sehr sehnte er sich nach einem vernünftigen Job. Oder zumindest einer Aufgabe, in der er seine in der Armee erlernten Fähigkeiten wieder einmal so richtig einbringen konnte… Jetzt würde er sich sicherlich so manchen hämischen Kommentar gefallen lassen müssen.
Die Polizisten in der West End Central Police Station waren immerhin halbwegs professionell. “Diese Hündin hat bereits Preise im Wert von mehreren tausend Pfund gewonnen”, informierte Police Sergeant McFreddy Josh. “Vielleicht sollte sich Mrs. King einen Doggyguard zulegen!” Und er lachte laut über sein Wortspiel.
Als Josh seine Aussage zu Protokoll gegeben hatte und in den Besucherbereich trat, wartete Mrs. King bereits auf ihn. “Das war so nervenaufreibend!” rief sie mit geröteten Wangen. “Silvie war ja so nervös, als der Police Inspector uns befragt hat!”
Josh warf einen blick auf den Terrier, der sich auf der gepolsterten Bank neben der Damenhandtasche mit dem Lösegeld zusammengerollt hatte und friedlich schlief. Von Nervosität keine Spur. Jedenfalls nicht bei Silvie. 
“Der Entführer hat gestanden” ließ Mrs. King Josh an ihrem neu erworbenen Wissen teilhaben. “Und wissen Sie was – diese Unholde haben das bei fünf weiteren Damen gemacht! Doch die sind anscheinend nicht zur Polizei gegangen.“
„Wirklich“, murmelte Josh. Kaum zu glauben, dass diese Dilettanten schon so oft damit durchgekommen waren. Aber nun, die Opfer waren sicherlich alle ältere Damen gewesen, die an ihren geliebten Vierbeinern mehr hingen als an ihren Enkeln, Neffen oder Nichten – und alles getan hätten, um ihre Viecher wiederzubekommen.
„Sie haben mir mein Mäuschen wiedergebracht“, unterbrach Mrs. King seine Gedanken. „Deswegen möchte ich Ihnen neben dem vereinbarten Lohn noch etwas schenken. Das gehört Ihnen.”
Und sie deutete auf die prall gefüllte Damenhandtasche. “Nein, das kann ich nicht annehmen!” erwiderte Josh überrascht.
“Doch, das können Sie. Ich bestehe darauf! Ohne Sie wäre Silvie jetzt vielleicht tot.” Das wagte Josh zu bezweifeln.
„Aber – braucht die Polizei das Geld nicht noch, bis der Entführer vor Gericht ist?“ wandte er ein.
„Nein – ich kann es gleich mitnehmen. Das heißt – Sie können es gleich mitnehmen.“
Josh wehrte sich noch ein Weilchen, doch nach gutem Zureden von Mrs. King nahm er die Damenhandtasche an sich – unter den wachsamen, überraschten und sicher auch neidischen Blicken mehrerer Polizisten.
Vielleicht hätte ich die Entführung doch nicht der Polizei melden sollen. Die Aufklärung von Dognapping hätte eine sichere Einnahmequelle werden können, dachte er zynisch. Doch natürlich wusste er, dass das Unsinn war. Tränen und Lösegeld für einen Schoßhund. Das war einfach nicht seine Welt.
“Mehrere tausend Pfund Preisgeld”, fielen ihm die Worte des Polizisten wieder ein. Einer Eingebung zufolge holte er eine Visitenkarte aus seinem Portemonnaie und überreichte sie Mrs. King. 
“Vielleicht sollten Sie Ihr Anwesen besser sichern. Und vielleicht auch ein fachkundigeres Dienstmädchen auswählen. Mr. Hayman ist Ihnen da sicher behilflich.“
zehntausend Pfund reicher fuhr er fünf Minuten später von Westminster nach Harrow. zehntausend Pfund. So viel Geld hatte er schon lange nicht mehr besessen. Doch es war klar, wo es hinfließen würde – in die Finanzierung seiner Wohnung. Und vielleicht reichte es auch noch für einen neuen Laptop und ein neues Smartphone.
Oder war es nicht doch an der Zeit, sich nach einem richtigen Büro umsehen? Josh dachte kurz darüber nach und verwarf den Gedanken sofort wieder. Ein Büro, in dem seine Kunden ihn aufsuchen konnten, musste in einer bessergestellten Gegend liegen. Belgravia. Hempstead. Oder Myfair. Aber nicht in Harrow. zehntausend Pfund wären dafür viel zu wenig. Nein, besser, er kümmerte sich darum, seine Ausrüstung aufzubessern.
Sein schwarzer Mitteklassewagen war nach außen hin eher unscheinbar. das musste sein, damit er nicht befürchten musste, dass ihm das Auto in einer Gegend wie Harrow nicht geklaut wurde. Doch unter der Motorhaube steckte ein starker Dieselmotor, mit dem er in fünf Sekunden auf 100 Meilen beschleunigen konnte, wenn er wollte. Ideal für Verfolgungsjagden um London herum. So konnte ihn auch ein neureicher Sproß mit Ferrari nur schwer abschütteln.
Wie immer, wenn er nichts besseres zu tun hatte, ging er in Jim’s Pub. Auf Anrufe und neue Aufträge konnte er hier genauso warten wie zu Hause. Nur hatte er neben den neuesten Sportevents und kaltem Bier noch mehr Unterhaltung. Er konnte die Leute beobachten, die ein und aus gingen – oder auch nur draußen vorbeiliefen. Und er konnte sich mit Jim unterhalten. Und immer wieder schauten auch seine Freunde herein.

Zeitgleich im Hyde Park

„Tot“, stellte Detective Marcus Sawner von Scotland Yard angesichts der Leiche vor ihm das Offensichtliche fest.
„Genau“, nickte Darrel Thompson von der Spurensicherung, der neben dem aktuellen Opfer kniete. „Ein Messerstich in den Hals. Noch jung, der Kerl. Wieder einer. Was ist das nur für ein kranker Killer?“
„Irgendwas auffällig?“, fragte Marcus weiter.
„Das Übliche. Zu wenig Blut.“
„Das heißt Ihrer Meinung nach?“
„Er kann nicht hier getötet worden sein. Sonst müsste der Boden hier im näheren Umkreis blutgetränkt sein. Es finden sich aber lediglich Blutspritzer an der Jacke des Opfers.“
„Kann das Blut nicht irgendwie aufgefangen worden sein?“
„Nein.“ Darrel schüttelte den Kopf. „Warum?“
„Sie haben selbst gesagt, es handelt sich um einen kranken Killer. Wer weiß. Vielleicht hat er das Blut getrunken?“
„Getrunken? Machen Sie Witze? Ein Mensch schleppt etwa fünf bis sechs Liter Blut mit sich herum. Das trinkt niemand.“
„Es sei denn, es wurde aufgefangen und mitgenommen.“
„Hm.“ Darrel überlegte. „Das könnte sein. Das könnte wirklich sein.“
„Wann ist er wohl gestorben?“
„Ich vermute, zwischen zwei und drei Uhr nachts.“
„Um diese Zeit ist der Hyde Park längst geschlossen.“
„Das heißt ja hauptsächlich, dass niemand mehr hineinkann. Es ist gut möglich, dass sich jemand nach Schließung noch dort aufgehalten hat.“
„Aber aus welchem Grund?“
Darrel zuckte die Schultern. „Nun, ich denke, es ist Ihr Job, das herauszufinden.“
Typisch, dachte Marcus wenig später, während er zu seinem Dienstwagen lief. Die naheliegendste Erklärung wollte wieder einmal niemand wahrhaben. Und er würde in Teufels Küche kommen, wenn er seinen Verdacht laut aussprach. Müde strich er sich das blonde Haar aus dem gutgeschnittenen Gesicht. Wie lange war er jetzt bei Scotland Yard? Über zehn Jahre? Es fühlte sich an wie hundert. Kurze Nächte, endlose Tage, viel zu viele Akten und Opfer, viel zu wenig Zeit für die Aufklärung. Immerhin hatte die aktuelle Mordserie Priorität, weil es sich nicht um typische Delikte aus dem Kreis des organisierten Verbrechens zu handeln schien.
Den ganzen Tag verfolgte ihn die blutleere Leiche, wohin er auch ging oder blickte. Es war an der Zeit, dem allen ein Ende zu bereiten. Nur – wie?
Zum Glück hatte er sich für den Abend mit seinem Freund Josh Anderson verabredet. Das versprach zumindest etwas Abwechslung.
Abends trafen sich die beiden in Soho. Josh Anderson kam lächelnd auf ihn zu. Der großgewachsene Mann mit dem dunkelbraunen Haar und dem gewinnenden Lächeln brachte das Herz nahezu jeder Frau zum Schmelzen.
„Dein Mord, der im Hyde Park?“, fragte Josh sofort.
„Richtig.“
„Das ist jetzt der dritte, oder?“
„Stimmt.“
„Zwei im Regent’s Park, jetzt im Hyde Park.“
„Alle nach Schließung.“
„Genau.“
„Und zu wenig Blut.“
„Viel zu wenig Blut. Spurensicherung und Pathologen meinen einstimmig, dass die Männer nicht an Ort und Stelle ermordet worden sein können. Auch gibt es keine Spuren eines Kampfes. Das Opfer kam dem Täter ganz nah.“
„Und hat sich mehr als breitwillig die Kehle aufschlitzen lassen.“
„Ganz genau.“
„Oder aber, das Blut wurde aufgefangen.“
„Aber warum?“
„Wir wissen, warum.“
„Wer war diesmal das Opfer?“
„Wissen wir noch nicht genau. Auf jeden Fall wieder ein junger Mann. Wieder weiß. Wieder Mitte zwanzig.“
„Jung waren sie alle, oder?“
„Ja. Jung und wohlhabend. Ein Banker bisher, und ein angehender Immobilienmakler. Keiner trug irgend etwas bei sich. Keine Brieftasche, keine Armbanduhr, kein Smartphone.“
„Und keine Hinweise auf den Täter?“
„Bei dem aktuellen Opfer hat die Untersuchung ja gerade erst angefangen. Naja. Wir wissen ja, was wohl passiert ist.“
Josh seufzte schwer. „Wir brauchen nur Beweise.“
„Selbst wenn wir welche hätten, ist die Frage, was wir damit anfangen könnten.“
„Tja.“ Marcus zuckte die Schultern. „Ich halte dich auf dem Laufenden. Und was ist bei dir?“
„Das Übliche.“ Josh seufzte. „Die Bank versucht noch immer, herauszufinden, wie es zu dieser ungeheuren Unterschlagung kommen konnte. Ich bin den ganzen Tag dasmit beschäftigt, Akten zu wälzen, um Ungereimtheiten zu finden. Aber es ist ein Fass ohne Boden.“
„Klingt spannend“, ätzte Marcus.
„Etwa so spannend, wie dein Job. Akten schreiben. Leute befragen. Was weiß ich. Immerhin wird es heute Abend etwas spannender.”
“Wieso?”
“Hayman hat einen Überwachungsjob für mich. Auf dem Brachgelände nördlich vom Hyde Park. Endlich einmal ein Job, wo ich meine Fähigkeiten wirklich einsetzen kann.“ Und dann erzählte er seinem Freund von Silvie, bis dieser vor Lachen zusammenbrach.

Sonja

Endlich in der Luft! Eine Woche hinaus aus dem grauen Alltag zu einem Kurztrip nach London. Sonja atmete tief durch. Ein bisschen Abstand war genau das, was sie jetzt brauchte – insbesondere nach dem Streit mit Thomas. Er wollte einfach nicht einsehen, dass sie nicht schon wieder ein neues Auto brauchten. Statt dessen würde sie viel lieber in den Urlaub fahren. So viele Orte, wo sie noch nicht gewesen war – China zum Beispiel oder Ägypten… Aber jedes Jahr kam etwas dazwischen – eine neue Schlafzimmereinrichtung, ein neuer 3D-Fernseher – oder wie jetzt ein neues Auto. Letztendlich reichte es dann immer nur für eine Woche Mallorca oder Ibiza. In dem einen Film – wie hieß er noch gleich? – hatte dieser Typ gesagt :“Ich geh nur schnell Zigaretten holen“ und war nie mehr zurückgekommen. Manchmal wünschte sie sich genau so etwas. Einfach verschwinden, lange Urlaub machen, in den Tag hinein leben, Job Job und Mann Mann sein lassen…

Das Hotelzimmer war wie auf der Hotelvergleichsseite beschrieben: sauber, aber spartanisch eingerichtet. Doch das sollte für ein Wochenende reichen. Leider war die Lage auch genauso wie beschrieben – ziemlich schmuddelig und für alleinreisende Frauen nicht gerade angenehm. Vielleicht hätte sie doch etwas mehr dafür ausgeben sollen. Aber da konnte sie jetzt nichts dran ändern. Letztendlich waren es ja auch nur fünf Minuten bis zu den belebten Straßen der Innenstadt – und im Zweifelsfall konnte sie immer noch ein Taxi zurücknehmen.

Sie hatte sich gegen ein Taxi entschieden. Die fünf Minuten zu Fuß würde sieschon überlebn. Ganz wohl war ihr zwar nicht in der Haut. Jemand pfiff ihr hinterher. Etwas raschelte keine zwei Meter von ihr entfernt – aus dem Dunkel erschien eine Ratte im fahlen Licht der Straßenlaternen und huschte direkt vor ihren Füßen über die Straße. Sie unterdrückte einen Schrei. Das half ihr jetzt auch nicht weiter. Wo zum Teufel war nur das Hotel? Schritte. Sie wusste plötzlich, dass sie verfolgt wurde. Hinter ihr leises Gelächter. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Sie lief etwas schneller. Die Schritte blieben etwas zurück. Dafür kamen Schritte von rechts. „Schnapp sie dir“ hörte sie eine kalte Stimme sagen. Da begann sie zu rennen.