SVV Kurzgeschichte

Ronny ist eine Kurzgeschichte über selbstverletzendes Verhalten und Magersucht. Sie erscheint im eBook “Pro Ana Tagebuch – Drei Kurzgeschichten über Magersucht und SVV”.

Vorsicht – die SVV-Szenen enthalten keine ***!

Leseprobe

Meine Therapeutin hat gesagt, ich soll alles aufschreiben. Dass ich mich tatsächlich an den Computer gesetzt habe und zwar gerade jetzt, hat einen Grund. Doch dazu später mehr. Das Ganze ist fünf Jahre her. Angefangen hat es damit, dass ich Ronny kennengelernt habe. Das war in einem Selbstmordforum. Oh, nicht, dass ihr einen falschen Eindruck bekommt. Ich war nicht selbstmordgefährdet oder so. Es war eher die Neugier. Gut, daran gedacht hatte ich schon öfter. Aber mehr so nach dem Motto „Na, ich könnte mich ja mal irgendwann vor einen Zug werfen“. Bei Ronny war das viel konkreter. Er hatte sogar die Stelle schon ausgesucht. Ein einsamer Streckenabschnitt mitten im Wald. Ich bilde mir gerne ein, dass unsere Freundschaft ihn daran gehindert hat, es zu versuchen. Aber vielleicht war er damals auch einfach noch nicht so weit, wie er glaubte.
Der Thread im Forum lautete: „Wie ich es tun werde“
Ein gewisser Nachtfalke hatte darin gepostet:
„Vor einen ICE schmeißen. Zwischen Rednitzhembach und Schwabach. Sollen die, die alles verbockt haben, ruhig ein paar Stunden warten, bis sie mich von den Gleisen gekratzt haben.“
Das erregte mein Aufsehen. Denn ich kannte die besagten Orte. Ich war schon mehrmals auf diesem Streckenabschnitt gefahren. Und ich kannte den Text in seiner Signatur:

I see you
I hate you

you see my knife? I’ll take your life!
When we meet
we both will bleed
for I will beat
the mirrow
you know i will
It’s time to kill
myself

Auch wenn es nicht dabeistand, wusste ich, dass es sich um den Song „Time to kill“ der Band No Savior handelte. Einem meiner absoluten Lieblingslieder.
Ich besah mir das Profil dieses Nachtfalken. Er kam aus Nürnberg, und war 26 Jahre alt. Viel mehr konnte ich nicht herauslesen. Deswegen suchte ich nach allen Threads und Posts von ihm. Er hatte sich eifrig am Forum beteiligt, oft mit recht provokanten Sprüchen. Ständig schien er alle anderen in Punkto krasse Ansichten und Selbstmordmethoden überbieten zu wollen. Mir kam er einfach nur einsam und verzweifelt vor.
Ich hatte ein Ticket für das nächste No Savior Konzert gekauft. Da meine Freunde alle aus diversen Foren stammten und niemand in meiner Nähe wohnte, war ich davon ausgegangen, allein hingehen zu müssen.
Aber aus einer Laune heraus schrieb ich ihn an und fragte, ob er auch Karten für das Konzert hatte und mit mir zusammen hingehen wollte. Ist vielleicht nicht das richtige, was man in einem Selbstmordforum fragt. Das ist mir später auch klargeworden.
„Ich will mich umbringen.“
„Ich auch.“
„Prima. Wollen wir gemeinsam auf ein Konzert gehen?“
Ich wage kaum, mir vorzustellen, was er über mich gedacht haben muss. Aber er schrieb zurück:
„Klar. Ich hab auch ein Ticket.“
Als Erkennungszeichen hatte ich eine schwarze Plastikrose mitgebracht. Gewünscht hatte ich mir einen großen, gutaussehenden, muskulösen Mann mit dunklen Augen und schwarz (gefärbten) Haaren im Gothic-Look mit langem schwarzen Mantel.
Befürchtet hatte ich einen kleinen, unattraktiven und übergewichtigen Glatzkopf mit Bart.
„Hi. Ronny. Bist du Melanie?“
Der Typ, der letztendlich vor mir stand, war 1.70 groß und leicht untersetzt. Er trug sein blondes Haar raspelkurz. Seine blauen Augen standen relativ nah zusammen. Das hervorstechendste Merkmal in seinem schmalen, bleichen Gesicht war jedoch eine große Narbe an seiner rechten Schläfe, die ein bisschen aussah wie der Harry-Potter-Blitz. Er trug schwarze Jeans und ein schwarzes No-Savior-T-Shirt. Kein Gothic-Mantel. Aber das war ja auch nicht unbedingt ein K.O.-Kriterium gewesen.
Er musterte mich mit einem leicht ironischen Lächeln. „Melanie?“ fragte er noch einmal.
Ich muss ihn ziemlich angestarrt haben, denn es dauerte tatsächlich einen Moment, bis ich mich gefangen hatte. Wir begrüßten uns kurz und machten uns auf den Weg in die Location. Dabei musterten wir uns immer wieder und lächelten. Ab und zu tauschten wir kurze Bemerkungen aus. Doch eine richtige Unterhaltung wollte nicht in Gang kommen. Mir fielen keine Themen ein. Alles schien so belanglos. Was soll man auch zu jemandem sagen, von dem man weiß, dass er eigentlich gar nicht mehr leben möchte?
Immerhin stellten wir während dem Konzert fest, dass wir beide alle Lieder auswendig kannten und lautstark mitgröhlen konnten. Das hielt uns dann doch irgendwie zusammen.
Die Location war heiß und stickig. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Es war normal für mich, dass die Welt um mich herum immer leicht schwankte. Als sie plötzlich anfing, sich wie wild zu drehen, war es schon zu spät. Kurz darauf fand ich mich im Foyer auf einer Steinbank wieder. Keine Ahnung, wie ich dahin gekommen bin. Ronny saß neben mir und hielt mir einen Plastikbecher mit Wasser an die Lippen. No Savior war immer noch relativ gut zu hören. Natürlich spielten sie ausgerechnet in diesem Moment „Time to kill“.
Ich seufzte und setzte mich langsam auf. Ronny musterte mich nachdenklich.
„Du bist ziemlich dünn“, sagte er unvermittelt. Ich zuckte nur die Schultern. Meistens fühlte ich mich eher wie ein Elefant. Wir schwiegen einige Zeit und lauschten den Song, so gut es von draußen eben möglich war.
„Es geht wieder“, sagte ich nach fünf Minuten und genug Wasser, um vorher erwähnten Elefanten zu ertränken.
Doch Ronny bestand darauf, dass ich mich weitere 10 Minuten ausruhte und mich danach nicht wieder ins engste Getümmel stürzte, sondern im Eingangsbereich bleib. Und nach dem Konzert insistierte er, mich nach Hause zu begleiten. Ich protestierte:
„Du wohnst doch am anderen Ende der Stadt! Hinterher fährt gar kein Bus mehr zu dir raus.“ Er zuckte die Achseln. „Dann übernachte ich halt bei einem Kumpel.“
Ich muss gestehen, ich war durchaus erleichtert, als er das sagte. Denn auch, wenn ich ihn kaum kannte – er machte nicht den Eindruck, als wolle er über mich herfallen. Im Gegensatz zu manch anderen zwielichtigen Gestalten, die sich nachts an den U-Bahn-Höfen herumdrückten.
Auch auf der Fahrt nach Hause wollte kein Gespräch in Gang kommen. Ich war ziemlich müde und Ronny schien ebenfalls nicht nach Reden zumute zu sein, nachdem ich ihm seinen Konzertbesuch versaut hatte. Nur einmal merkte er an: „Meine Cousine ist auch so wie du. Auch so dünn.“
Ich verspürte einen Anflug von Neugier, aber auch von Eifersucht. Unbekannterweise. So wie ich. Was sollte das heißen? Hatte sie auch einen BMI von 16? Oder vielleicht sogar weniger? Ob sie auch mit Fressanfällen zu kämpfen hatte wie ich?
„Es tut mir leid“, sagte ich, als wir endlich vor der Tür des alten, mehrstöckigen Sandsteinhauses angekommen waren, in dem ich wohnte. Und ich meinte es auch.
„Kein Ding“, murmelte er. Und er verschwand. Den sehe ich nie wieder, dachte ich, als ich langsam die Treppen in den fünften Stock hinaufkeuchte – Gott sei Dank, ohne noch einmal ohnmächtig zu werden.

Doch schon am nächsten Tag schrieb er mich über das Forum an und fragte, ob wir zusammen Kaffee trinken wollten. „Oder Cola light, wenn dir das lieber ist“, hatte er hinzugefügt.
Unser zweites Treffen war kommunikativer, wenn auch nicht minder bizarr. Ich bedankte mich zuerst bei ihm, dass er mich heimgebracht hatte und entschuldigte mich nochmals dafür, dass er wegen mir einen Teil des Konzerts verpasst hatte.
„Kein Ding“, murmelte er wieder. Wir schwiegen. Es wurde ziemlich unbehaglich…..

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Pro Ana Tagebuch: Vier Kurzgeschichten über Magersucht und SVV